Ein stiller See: Aikido als Übung des Geistes

Meditation ist elementar für Aikido. Bild von einem meditierenden Menschen von hinten.

Im dritten Teil meiner Serie „Was ist Aikido?“ schaue ich auf die Fähigkeit, sich innerlich zu zentrieren. Eine fürs Aikido ganz und gar grundlegende Fähigkeit. Und eine Fähigkeit, die wohl noch nie so herausfordernd und so wichtig war wie in unserer nervösen, schwirrenden Gegenwart.

Die Kampfkünste umweht ein Nimbus. Sie versprechen, nicht nur eine Schulung des Körpers und von kämpferischen Fertigkeiten zu sein. Kampfkünste verstehen sich zumeist auch explizit als eine Schulung des Inneren. In den japanischen Kampfkünsten zeigt dies die Silbe Do an, die sich als (innerer Lebens-)Weg übersetzen lässt.

Auch mich schlug als Jugendlicher dieser Nimbus in seinen Bann. Je älter ich allerdings wurde, desto unklarer wurde mir der „spirituelle“, „mentale“ oder „geistige Kern“ der Kampfkünste. Das änderte sich auch nicht, als ich mit Aikido anfing, obwohl hier rege über das Thema diskutiert wurde, zumeist nach dem Training in irgendeiner Kneipe.

Mich überzeugten jedoch keine Antworten so richtig, weder meine eigenen noch die meiner Gesprächpartner:innen. Ich fragte mich stattdessen immer wieder, was denn dieses ominöse Mehr-als-einfach-nur-Spaß-an-der-Bewegung (oder: -Interesse-an-der-Selbstverteidigung) konkret auf der Matte und im Leben (aka die 22 Stunden neben der Matte) bedeuten könnte.

2 Sekunden, dasselbe ganz anders

Vor ein paar Jahren verbrachte ich ein paar Monate in Israel, im Integral Dojo bei Miles Kessler Sensei (Lehrer). Ich trainierte dort fast täglich Aikido. Beim Training mit dem Stock (jo) oder Holzschwert (bokken) legte Miles Kessler besonders Wert auf eine Regel, die ich zwar schon gehört, aber bis dato nicht wirklich ernst genommen hatte: die sogenannte 2-Sekunden-Regel.

Diese Regel besagt schlicht Folgendes: Halte nach einer Technik/Bewegung zwei Sekunden inne, bevor du die nächste Technik/Bewegung einer Übungsform (Kata) ausführst. Besteht die Übung etwa aus der Verteidigung mehrerer schräger Angriffe (yokumen uchi) , so wird nach der Abwehr des ersten Schlages zwei Sekunden pausiert, bevor der zweite Angriff initiiert wird.

Wir stehen still – in höchster Konzentration, Wachheit und Klarheit

Ich gebe zu: Das mag ziemlich trivial klingen. Denn wir stehen in diesen Sekunden ja einfach nur still. Aber dieses „einfach“ ist gar nicht so einfach und vor allem weit mehr: Wir stehen still – in höchster Konzentration, Wachheit und Klarheit und das inmitten einer „Kampfsituation“, die uns permanent dazu verleitet, anzugreifen oder zurückzuweichen.

In diesen zwei Sekunden zeigt sich, so meine ich, ein Wesensunterschied: zwischen einem faden, routinierten, bedeutungslosen Aikido und einem Aikido, das fasziniert, das sich immer und wieder jetzt, im Augenblick des Übens ereignet. Aus dem Geist der 2-Sekunden-Regel ändert sich die Qualität der Übung grundsätzlich – wie sich der Geschmack ganz und gar ändert, wenn eine gerade noch fade Suppe etwas nachgesalzen wird.

Vielleicht blase ich die Bedeutung dieser Regel etwas zu sehr auf. Doch meine „2-Sekunden-Erkenntnis“ hatte zur Folge, dass meine noch aufgeblasenere Suche nach dem „geistigen Kern des Aikido“ vorläufig zur Ruhe kam. Aikido als Übung des Geistes zu verstehen, heißt für mich seitdem vor allem zunächst eins: uns innerlich zu beruhigen und zu klären.

Diese innere Schulung ist fürs Aikido aus zwei Gründen notwendig – und notwendiger denn je:

  1. Unser Alltagsbewusstsein spiegelt unsere gestresste, flattrige Lebensweise wieder – und ist damit alles anderes als ruhig und geklärt.
  2. Aikido hat hohe Anforderungen, die nicht körperlich-technischer Natur sind.

Schauen wir uns beides kurz an.

Unser Alltagsbewusstsein, am Schwirren

Mit unserem Geist verhält es sich ein wenig wie mit unserem Körper: Der Alltag formt ihn. Wie der Körper sich unserer alltäglichen Haltung angleicht, so passt sich auch unser Bewusstsein den alltäglichen Notwendigkeiten an.

Natürlich: Der Alltag geht weit, weit zurück. Und wir tragen nicht nur den Alltag unserer Zeit in uns, sondern auch den Alltag unserer Vorfahr:innen. Unser Körper und Nervensystem spiegelt auch den vergangenen Alltag wieder – vor Tausenden von Jahren. So verwundert es nicht, dass wir – dank Adrenalin – in Sekundenschnelle wach und fluchtbereit sind, die Entspannung hingegen erst langsam in unserem Körper und Geist einsickert. Ersteres war schlicht fürs Überleben relevanter: Wenn’s brennt, ein Tier hinterm Busch hervorspringt oder oder oder, dann zählt nun mal jede Sekunde. Bei der Entspannung hingen nicht. Anders gesagt: Ein Geist, der sich diese Disbalance nicht zu eigen machte, war evolutionärer im Nachteil (illustrativ dazu ein Artikel auf DIE ZEIT).

Aber wir üben ja Aikido heute – und nicht in grauer oder bunter, bewaldeter Vorzeit. Daher ist die spannendere Frage, wie sehr unsere Gesellschaft uns formt und was sie mit unserer anachronistischen Biologie betreibt. Es sind eben die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu der für unsere Zeit so typischen pandemischen Unruhe führen.

Unsere Gesellschaft befeuert permanent unsere Schwäche, auf Reize zu reagieren. Die gesamte Informations-, Werbe- und Konsumökonomie basiert darauf. Mehr noch: Unsere Gesellschaft definiert das permanente Streben, Rennen, Mehr-Wollen als das Normale, ja sogar als das gute Leben.

Immer weniger Zeit für Pausen, für Langsamkeit, fürs Nichts-Tun und für Stille.

Dieses Schneller, Weiter, Mehr heißt zugleich, dass immer weniger Zeit bleibt für Pausen, für Langsamkeit, fürs Nichts-Tun und Stille. Ohne diese Zeiten der Nicht-Aktivität, ohne den regelmäßigen Leerlauf bleibt aber keine Zeit mehr fürs mentale Verdauen der Fluten an Informationen, Eindrücken, Möglichkeiten, die auf uns einströmen.

Wir können diese Fluten nur verarbeiten, wenn wir uns anpassen. Und anpassen heißt: Wir müssen die Reize oberflächlicher verarbeiten, oder auch: abstumpfen. Aber natürlich: Für die Ökonomie ist gewonnene Aufmerksamkeit Geld. Und so folgt auf jede Gewöhnung oder Abstumpfung ein knalligerer Reiz: Überschriften werden zugespitzter (Clickbaiting), Filme bombastischer (Superhelden-Filme), Weiterentwicklung als Revolution vermarktet (Apple).

Es ist nicht schwer zu sehen: Diese Spirale führt zu einer Atemlosigkeit, einer schwirrenden Aufmerksamkeit. Die schwirrende Aufmerksamkeit springt von einem zum anderen, ohne bei dem einen oder anderem zu verweilen, geschweige denn auch nur etwas wirklich zu durchdringen. Sie ist oberflächlich und schnell.

Wenn wir dann mit unserem Alltagsbewusstsein ein Dojo betreten, dann prallt das Schwirren unseres Geistes auf die Stille des Ortes. Vielleicht wird dieser Aufprall nicht einmal wahrgenommen. Schlechte Voraussetzungen, mit dem Aikido-Training zu beginnen, denn…

Ich komme zum zweiten Grund, weswegen die Schulung des Geistes notwendig für Aikido ist.

Aikido, ziemlich anspruchsvoll

Aikido setzt voraus, dass wir wach und sensibel sind. Denn es zählen im Aikido die feinen Details. Es sind die Details, die Aikido zum Leben erwecken, die den alles entscheidenden Unterschied machen. Das betrifft die eigene Körperhaltung, den richtigen Abstand, die Position im Raum, das Gespür für den Körper des Partners. All das ist mit einem schwirrenden Bewusstsein nur schwer zu erfassen.

Vor allem aber prallt unser Alltagsbewusstsein auf die Anforderung und den Anspruch des Aikido, nämlich ruhig und gelassen zu bleiben, selbst wenn eine oder mehrere Personen angreifen. Aikido sucht nach einem Weg, unsere „normale Reaktion“ auf einen Angriff zu überwinden und das heißt: weder einen Gegenangriff zu starten noch einfach wegzurennen oder den Kopf in den Sand zu stecken und in eine Schockstarre zu verfallen. (Dazu ein andermal mehr.)

Das ist ein schmaler Grat. Ganz leicht machen wir unter der Hand aus einer Verteidigungstechnik eine Angriffstechnik! Gerade um diese feinen Unterschiede zu lernen und auf Dauer auch zu verkörpern, müssen wir diese subtilen Grenzen zuerst einmal wahrnehmen können. Wir müssen empfindsamer werden.

(Damit es nicht zu Missverständnissen kommt, hier eine kleine Fußnote: Empfindsamkeit ist nicht zu verwechseln mit Empfindlichkeit. Empfindlicher zu werden hieße, auf das, was wahrgenommen wir, recht unmittelbar zu reagieren. Mit Empfindsamkeit meine ich hingegen, wach und klar zu werden, also gerade nicht reaktiver zu werden.)

Drei Aspekte, die zählen

Der klare und ruhige Geist, den das Aikido bedarf, ist wie ein ruhiger See. Während das aufgewühlte Wasser die Umgebung nicht zu spiegeln vermag, so spiegelt sich die Welt in aller Klarheit, sobald sich das Wasser beruhigt hat. Jeder noch so kleine Stein, der in den See geworfen wird, hinterlässt eine kleine und eindeutige Spur.

Systematisch lässt sich die Kunst des Geistes anhand dreier Begriffe oder Eigenschaften beschreiben, die in den traditionellen Kampfkünsten immer wieder verwendet werden. Es sind Begriffe, die vor allem aus dem Zen stammen.

  • Zanshin. Der „unbewegliche Geist“*. Der zerstreute Geist, der von einem zum anderen springt, ist das Gegenteil dieser Geisteshaltung. Auch in der Zeit, in der nichts ist (vor der Technik, nach der Technik, zwischen den Bewegungen) bleibt der Geist ruhig und auf die Gegenwart konzentriert.
  • Mushin. „Absichtslosigkeit des Geistes“*. Diese Eigenschaft des Aikido-Geistes beschreibt die Offenheit, Klarheit und Leere – wie der Spiegel des ruhigen Sees. Er ist die Bedingung dafür, das zu sehen, spüren, wahrzunehmen, was ist und nicht, was wir denken, das sein sollte.
  • Shoshin. „Geist des Anfängers.“* Es ist die Unbefangenheit und Neugierde, die diese Geisteseigenschaft beschreibt. Während wir im Alltag häufig ein Programm abspulen, machen wir, sobald wir das Dojo betreten, alles so bewusst wie möglich. Wir spulen nicht die Techniken ab, sondern machen sie jedes Mal, als machten wir es zum ersten Mal. Nach jeder 2-Sekunden-Pause fängt eine neue Bewegung an. Shoshin bringt neben Stabilität und Offenheit die Frische.

Den Geist beruhigen – und empfindsamer machen

Die Neu-Ausrichtung unseres Geistes ist aufwendig, aber notwendig. Es bedarf der stetigen Übung. Nicht nur beim Aikido-Training, aber besonders auch hier. Fokussieren wir uns nur auf das körperliche Techniktraining und Vernachlässigen wir die Kunst des Geistes, dann droht alsbald Stillstand. Wie die Vorbereitung und Schulung des Körpers, so ist auch die Fähigkeit, sich zu zentrieren und das schwirrende Alltagsbewusstsein hinter sich zu lassen, elementar.

Daher sollten wir den Übergang vom Alltag zum Training ganz bewusst gestalten und mit einem Moment oder ein paar Minuten der Meditation beginnen. Ich denke dabei vor allem an eine Form, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten hat: die Achtsamkeitsmeditation (mehr dazu, ja viel mehr, habe ich woanders aufgeschrieben). Fürs Aikido-Training scheinen mir zwei zunächst ausreichend:

  1. Konzentration auf den Atem. Sitzend beobachten wir das Heben und Senken der Bauchdecke, wie es durch das Ein- und Ausatmen geschieht. Unvoreingenommen. Wach. Neugierig. Der schwirrende Geist wird sich dagegen auflehnen – und daher besteht die Übung hier zunächst darin, den schwirrenden Geist frühestmöglich zu erkennen und die Aufmerksamkeit wieder auf den Atem zu richten. So beruhigen wir den Geist.
  2. Beobachtung der Details. Nachdem sich der Geist etwas beruhigt hat, können wir nun daran gehen, unsere Wahrnehmung zu verfeinern. Dazu fragen wir uns schlicht: Wie fühlt es sich an, wenn sich die Bauchdecke hebt und senkt? Wir fragen uns dies bei jedem Atemzug. Immer wieder. Es ist also auch eine gute Übung für Shoshin.

Mit jedem Mal, wenn uns diese ruhige und offene Geisteshaltung an unserem Übungsobjekt Atmung gelingt, steigt die Chance, sie auch während Aikido verkörpern zu können. Die Minuten der Mediation zu jedem Anfang des Trainings erhöhen die Chancen einer bedeutungsvollen Stunde. Eine Stunde, in der wir die feinen Unterschiede lernen und irgendwann auch in einem Stresstest mit mehreren Angreifern (Randori) ruhig, klar und behutsam zu bleiben.

„Behutsam“ – damit kündigt sich schon die ethische Dimension des Aikido an. Um diese soll es aber im nächsten und vorerst letzten Beitrag der Serie „Was ist Aikido?“ gehen.


* Quelle: Lind, Werner (2001): Lexikon der Kampfkünste. Edition BSK. Berlin: Sportverlag.


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