Aikido, ein Kampf-Ritual

Aikido Übende mit dem Stock (Jo)

Ist Aikido ein Kampfsport oder eine Kampfkunst? Weder noch. Es ist ein Kampf-Ritual. Zum Abschluss meiner Serie „Was ist Aikido?“ schlage ich damit eine neue Art und Weise vor, Aikido zu betrachten – und zu üben.

Manchmal verhält es sich mit Aikido wie mit einem modernen Kunstwerk. Man schaut es sich an, doch so richtig schlau wird man daraus nicht. Ist Aikido Kampfkunst? Ein Tanz? Eine Show? Aikido passt in keine der gängigen Kategorien. Es ist weder Kampfsport noch Kampfkunst.

Weder Kampfsport…

Eine Besonderheit des Aikido ist, dass es keine Wettkämpfe vorsieht (es gibt nur eine Ausnahme: der Aikido-Stil Shodokan, gegründet von Tomiki Kenji). Während Budo-Künste wie Karate oder Judo sowohl traditionelle als auch sportliche Varianten entwickelt haben, so hat sich Aikido dagegen bisher verwehrt.

Aikido ist kein Kampfsport, denn es fehlen der Wettbewerb, das Messen, das Gewinnen und Verlieren. Es fehlen das strikte Regelwerk, das Turnier, die Punkte.

Dafür gibt es zwei gute Gründe:

  1. Es widerspräche der Philosophie des Aikido, die den Wettkampfsport immanente Polarität von Gewinnen und Siegen zu übernehmen.
  2. Es ist zu gefährlich. Aikido übt vor allem Würfe und Hebeltechniken, die im Eifer des Gefechts schnell zu seriösen Verletzungen führen können. Im Judo etwa wurden deshalb die Hebeltechniken größtenteils aus dem Wettkampfsport verbannt (Hebel sind nur noch am Ellbogengelenk erlaubt).

…noch Kampfkunst

Es ist daher wohl keine kontroverse Behauptung, dass Aikido kein Kampfsport ist. Aber auch eine Kampfkunst? Da sieht es wahrscheinlich anders aus.

Auch im Aikido gibt es viele Techniken, die eine:n Angreifer:in kontrollieren und – dem Potenzial nach – verletzen können. Trotzdem halte ich Aikido für keine effektive Kunst des Kampfes, für keine gute Selbstverteidigung. Denn dafür fehlt dem AIkido häufig das angewendete Können oder, wie man es heute sagen würde, die realness oder gar die street credibility.

Auch für meine zweite Behauptung gibt es gute Gründe:

  1. Vieles fehlt im Aikido-Training. Im klassischen Aikido-Programm fehlen viele Angriffsarten (etwa Tritte), Kampfsituationen (v.a. Bodenkampf) und Angriffstaktiken (u.a. Finten). Das ist teilweise, nebenbei bemerkt, für viele andere Kampfsysteme auch der Fall (mehr dazu in meinen fünf Cent zu MMA).
  2. Fehlende Übertragbarkeit. In der Wissenschaftstheorie gibt es den Begriff der „ökologischen Validität“. Dieser beschreibt, wie gut sich das im Experiment Gezeigte auch in der „echten Welt da draußen“ manifestiert. Nun, ich halte die die ökologische Validität des Aikido, für recht gering: Der Umgang mit dem Adrenalin, das Einstecken-Können, die Anpassungsfähig, wenn etwas nicht nach Plan läuft – all das ist dem Aikido-Training häufig fremd.

Man wird gut in dem, was man immer wieder und immer wieder übt. Übt man aber weder den Umgang mit bestimmten Angriffen noch mit existenziellen Situationen, dann ist es doch just der gekonnte Umgang damit sehr unwahrscheinlich.

Um einem Missverständnis direkt vorzubeugen. Ich denke durchaus, dass das Trainieren von Aikido auch einen wertvollen Beitrag für die Selbstverteidigung leisten kann. Viele andere Kampfsportler:innen und -künstler:innen können von Aikido profitieren – z.B. von den Details der Techniken. Aber – und das ist mein Punkt – das reguläre Aikido-Training ist nicht hinreichend übertragbar für den realen Kampf.

Was also sehen wir, wenn wir vor dem rätselhaften Aïkido stehen? Ich möchte behaupten: ein Kampf-Ritual.

Ritual?

Ja, genau. Deshalb folgen zunächst ein paar Absätze Theorie.

Ritual?

Im Duden steht eine nützliche erste Definition. Ein Ritual ist demnach ein

wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung (zur Quelle)

Wiederholung und Regeln

An dieser Definition ist einiges dran: Rituale, wie das sich gegenseitige Grüßen, laufen ja meist recht ähnlich ab: Es gibt eine Grußformel und einen Handschlag oder eine Umarmung. Zugleich ist dieses Verhalten kein Zufall, sondern das Ergebnis von Erziehung. Wir haben es gelernt – von unseren Eltern, von Lehrer:innen usw. Sie alle haben uns in gewisser Weise dazu diszipliniert, Teil einer Höflichkeits-Ordnung zu werden – und damit in der Gesellschaft akzeptiert zu werden.

Erstaunlicherweise hat ein Ritual heutzutage aber auch einen faden Beigeschmack. Wir betrachten unseren Alltag zumeist nicht als ein Sammelsurium an Ritualen (das ist aber durchaus lohnenswert!), sondern denken bei Ritualen ja meist an religiöse Praktiken, die etwas länger dauern oder mit denen viele per se nichts mehr anfangen können. Häufig sagen wir dann abwertend, „etwas sei ritualisiert“. Damit meinen wir, dass es nicht wirklich echt sei. (Auch in der Psychologie weckt der Ritual-Begriff häufig negative Assoziationen, etwa bei sogenannten „Zwangsritualen“. Wir könnten dies ja auch „Zwangshandlungen“ oder so nennen.)

Aber das Ritual, so wie ich es hier verstehe, hat gerade nichts mit Routine zutun. Rituale sind bewusste Akte. Sie entreißen uns dem alltäglichen Zeitstrom, wie etwa eine Zigaretten-Pause eine kurze Auszeit von Büro-Muff erlaub.

Als ob

Die soeben zitierte Definition greif allerdings zu kurz. Denn Rituale haben, so steht es bei Wikipedia bereits im ersten Satz, einen Symbolgehalt. Und hier wird es spannend: Denn ein Ritual ist und steht nicht für sich allein, sondern es verweist zugleich auf etwas anderes, etwas größeres.

Das Grüßen symbolisiert eben auch einen gebildeten Charakter. Rituale schaffen Gemeinschaft, sie halten grundlegende Grundsätze und Annahmen einer Gesellschaft aufrecht. So ist die Wahl alle vier Jahre nicht nur eine Stimmabgabe, sondern ein Ritual, in dem wir die Demokratie bekräftigen, in dem wir uns als verantwortungsbewusst Staatbürger:innen erweisen.

Mich hat vor allem eine Theorie des Rituals überzeugt, die der amerikanische Anthropologe Michael Puett, Professor für die Geschichte Chinas, vertritt. Er hat seine Ritual-Theorie anhand der chinesischen Klassiker entwickelt.

Im Zentrum des Ritual steht demnach nicht die Wiederholung oder die Reproduktion einer bestimmten Ordnung. Vielmehr ist ein Konjunktiv, ein „als ob“, das alles Entscheidende. Zitat Puett und Kollegen:

The model we propose … understands ritual as a subjunctive—the creation of an order as if it were truly the case. (Zur Quelle)

Rituale sind nichts beiläufiges oder passives, sondern vielmehr etwas produktives: Wir begeben uns für die Zeit des Rituals in eine ideale Welt und handeln, als ob die Welt so wäre, wie sie im Ritual erscheint. Wenn wir uns etwa Grüßen, dann begegnen wir uns für einen Moment als Gleiche, auch wenn wir in der Realität nicht gleich sind.

Das Ritual hat selbst, so könnte man es auch sagen, einen utopischen Überschuss. Es nährt die Hoffnung, dass von dieser Als-ob-Welt zumindest etwas auf die „echte Welt“ überschwappt.

Aikido oder als ob wir gewaltfrei einen Kampf beenden könnten

Aikido hat viele ritualisierte Aspekte: Wir verbeugen uns vor und nach dem Training, vor und nach den jeweiligen Übungen usw. Höflichkeit, Umsicht, Nachsicht – all das sind Werte, die wir in Ritualen verkörpern und symbolisieren.

Ich möchte aber behaupten: Alles was auf der Matte geschieht, lässt sich als Ritual begreifen. Die Techniken, die wir üben, folgen klaren Regeln, wir üben sie immer und immer wieder mit wenig Variation. Auch die Unterscheidung von Angreifenden (Uke) und Verteidigenden (nage), die Art der Angriffe – all das hat rituellen Charakter.

Aus dieser Perspektive heraus wird auch verständlich, was dieses „moderne Kunstwerk Aikido“ ist: Es ist ein Ritual, das eine ideale Welt erzeugt, in der Gewalt und Angriffe einen friedlichen Ausgang nehmen. Wir üben das, was in der echten Welt nie so aussehen würde. Entweder wir bestünden „auf der Straße“ nicht oder, wenn doch, würden wir voraussichtlich Menschen verletzen. Die Techniken, so bin ich überzeugt, sind nur für Aikido- oder Budoka (etwa: Übende der Kampfkunst) schmerzfrei, die nicht wirklich gewinnen wollen.

Aikido ist aber auch alles andere als ein Tanz. Im Zentrum stehen Konflikt, Angriff, Gewalt, stehen Angst, Aggression, Stolz, Rache. Wir üben, als ob wir mit all diesem Situationen und Emotionen friedlich umgehen, als ob wir Aggression in Wertschätzung umwandeln könnten. Das Kampf-Ritual Aikido – wir könnten es auch ein Friedens-Ritual nennen.

Das Dojo als utopischer Raum

Der Raum, in dem wir das Kampf-Ritual üben können, muss ein geschützter Raum sein. Mit klaren Regeln. In diesem Raum, dem dojo, können wir beginnen, unsere Reflexe zu zügeln und im Kleinen so zu handeln, als ob wir bereits das Unmögliche könnten: sanft und friedlich einen Angriff zu beenden.

Jedes Mal, wenn wir von der Matte kommen, glauben wir vielleicht ein wenig mehr daran, dass die Welt doch eine friedliche(re) sein könnte. Und wir sind vielleicht ein wenig mehr davon überzeugt, dass auch wir einen Teil dazu beitragen können, indem wir gemeinsam auf der Matte die Samen der Zuversicht gesät haben.


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