Die 2 wichtigsten Dinge: Beginnen – immer und immer wieder

Aikido Anzug, der aufs Training wartet.

Für Aikido gilt, was auch für so manch andere Leidenschaften gilt: Es gibt viele Berge und Täler zu überwinden. Umso wichtiger ist es, sich bewusst zu machen: Ein noch so langer Weg besteht aus unendlichen Etappen. Und damit aus unendlichen Aufbrüchen.

Wer kennt es nicht: das Gefühl, etwas machen zu wollen (oder zu müssen) und trotzdem nicht den Hintern hochzubekommen. Das gilt ja häufig wortwörtlich. Nach einem Tag am Schreibtisch reicht die Energie häufig nur noch fürs körperlich-mentale Downgrade: das Fläzen auf der Couch.

Es ist ein seltsames Gefühl. Schlapp, lustlos, unzufrieden. Irgendwie so ein Mix. Wollen wir nun trainieren (oder meditieren oder endlich an dem Buchprojekt weitermachen oder oder oder), dann erscheint die Kluft zwischen dem aktuellen Zustand und dem imaginierten Kraftaufwand, der auf einen wartet, unüberbrückbar.

Das ist natürlich etwas übertrieben – und doch sollten wir die Hürde, den Alltag zu durchbrechen, nicht unterschätzen. Vor allem nicht bei einem so langwierigen Weg wie dem des Aikido.

„Showing up on the mat“

Ich habe mich die letzten Monate intensiv mit Bewegungskunst beschäftigt (und sogar eine Ausbildung zum GMB Trainer gemacht! 拾). Was mich an diesem Ansatz fasziniert, ist die Didaktik. (Mittlerweile ist mir auch klar, warum: Die Gründer der GMB Methode sind Kampfkünstler – und viele der didaktischen Überlegungen haben im Budo ihren Ursprung. Man fällt wohl nicht weit vom eigenen Stamm…)

Besonders das wohl wichtigste Mantra des Gründers Ryan Hurst ist mir in Erinnerung geblieben: „Showing up on the Mat“. Damit meint er, sich eine Zeit zu setzen und zu dieser auch wirklich zu trainieren – not matter what. Das klingt vielleicht oberflächlich. Aber das ist es nur oberflächlich betrachtet.

Schauen wir uns dieses „Showing-up-on-the-mat-Mantra“ also mal in seinen verschiedenen Facetten an – von der praktischen über die philosophische bis hin zur gesellschaftlichen.

Das Körpergefühl kann trügerisch sein

Nehmen wir nochmal das Beispiel vom Feierabend auf der Couch. Klar, wir haben keine Lust, uns zu erheben. Doch tun wir es doch und spazieren evtl. eine Runde um den Block oder durch den Wald, dann könnte es durchaus sein, dass wir mit mehr Energie zurückkommen. Schon mal erlebt? Eben!

Das heißt: Wir sollten unser aktuelles Körpergefühl ernst, aber nicht zu ernst nehmen. Vielleicht sollten wir es eher als eine Arbeitshypothese auffassen, die es zu testen gilt. Die Energie reicht doch wohl auch nach dem härtesten Sitzungstag für ein paar Schritte vor die Haustür! Warum nicht erst nach den „Test-Schritten“ entscheiden, ob es eine längere Wanderung oder doch Netflix wird?

Genau in diesem Sinne ist das Mantra „Showing up on the mat“ gemeint: Loslegen – und dann sehen, wie es läuft.

Ganz praktisch heißt das dreierlei:

  1. Betrete den Übungsraum zur geplanten Zeit.
  2. Beginne dich aufs Training vorzubereiten aka mache die „Aufwärmung“ und starte mit lockeren Bewegungen.
  3. Schaue, wie es dir nach der Vorbereitung ergeht – und entscheide dann, ob du etwas an dem geplanten Trainingsinhalt ändern musst, z.B. geringere Dauer oder weniger Intensität.

Den dritten Schritt nennt man in der GMB Methode übrigens „Autoregulation“, also sich selbst in seinem Training zu steuern statt blind einen Plan zu verfolgen (das setzt natürlich ein hohes Maß an Aufmerksamkeit voraus, die es zu üben gilt). Das bezieht sich auch auf Fragen wie Erschöpfung nach intensiven Trainingseinheiten, Müdigkeit nach zu wenig Schlaf, Unwohlsein, wenn es hier und da zwickt. Es ist der Aufruf, nicht zu sehr über den aktuellen Gefühlszustand nachzudenken, sondern mit seinem Körpergefühl spielerischer umzugehen.

Vielleicht fragt sich jetzt der oder die eine oder andere: Wie soll das im Aikido-Training gehen? Genauso. Die Intensität des Trainings lässt sich steuern, Pausen lassen sich einfordern – und im Notfall lässt sich die zweite Hälfte vom Mattenrand aus verfolgen.

Den Fokus aufs Beginnen zu lenken – das ist natürlich erst mal ein psychologischer Trick. Es ist eine Methode, den inneren Schweinehund auszutricksen.

Aber für mich ist es weit mehr.

Mikro-, Makro- und MAKRO-Beginne im Aikido

Die Haltung des Beginnens ist eine Form des Shoshin, des „Anfänger-Geistes“, den ich an anderer Stelle bereits beschrieben habe. Als Haltung ist das Beginne-Mantra nicht als reine Psycho-Trick misszuverstehen.

Die Shoshin-Haltung umfasst alle Ebenen des Aikido-Weges:

  • Mikro-Ebene. Wenn wir eine Technik üben, dann zählen nicht die 100 Wiederholungen. Wir sollten vielmehr jedes Mal die Bewegung so ausüben, als ob man sie das erste und das letzte Mal übe. Im GMB-Sprech: „Doing one rep as beautiful as possible – and then one more.“
  • Makro-Ebene. Das Training ist eine neue Etappe. Wir wissen nicht, was rauskommt, wo es hingeht. Wir lassen uns überraschen.
  • MAKRO-Ebene. Eine Haltung des Beginnens heißt auch, nicht schnurstracks auf ein Ziel zuzugehen. Der erste schwarze Gürtel (es gibt mehrere, meist zehn) heißt so auch shodan. Und so schließt sich ein Kreis. Denn die erste Silbe ist dieselbe wie im japanischen Wort für Anfänger-Geist; Shoshin. Mit dem schwarzen Gurt beginnen wir aufs Neue.

Eine offene Zeit

Die „Haltung des Beginnens“ basiert sogar, so möchte ich behaupten, auf einem besonderen Verständnis von Zeit und unserem Verhältnis zu dieser.

Häufig machen wir etwas, um irgendetwas zu erreichen – und in unserer Gesellschaft ganz besonders häufig.

  • Wir gehen in die Schule, um eine Ausbildung zu machen oder um zu studieren.
  • Wir bilden uns, um einen Job zu bekommen.
  • Wir arbeiten, um unser Leben zu finanzieren oder um etwas in der Welt zu bewegen oder um eine gute Rente zu erhalten.

Diese Um-zu-Logik liebt nicht das Anfangen, sondern das Erreichen, nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft, nicht die Offenheit, sondern die Sicherheit.

Aus dieser Logik aber folgt notwendigerweise die permanente Standortbestimmung, die Frage, wie weit wir schon gekommen sind. Wir evaluieren unseren Fortschritt. Das mag zwar hier und da sinnvoll sein, aber es führt auch zu einem Druck. Dem Druck, seinen Zielen und Erwartungen (und denen der Gesellschaft) gerecht zu werden.


Ich war mal in einem Meditationszentrum zu Gast. Der Lehrer begann die Stunde mit einer so heiter vorgetragenen und gleichzeitig einer so abwegigen Empfehlung, dass ich an sie immer wieder denken muss: Wir sollten, so sein Vorschlag, täglich voller Engagement meditieren, aber uns maximal alle zehn Jahre fragen, wie weit und wohin uns die Praxis denn gebracht habe.


Ich gebe zu, das ist eine seltsame Empfehlung. Vielleicht aber ist eine solche Haltung auch nur für uns Problemlöser:innen ungewohnt. Es ist jedenfalls eine Haltung, die viel Gelassenheit hervorbringt. Und eine Haltung, die die Aufmerksamkeit auf die „Matte“ lenkt. Das im Training zu geben, was an diesem Tag möglich ist. Mehr ist nicht zu tun.

Fehlt nur noch die dritte Facette, die gesellschaftliche.

Peitsche und Geselligkeit

Machen ist vielleicht in der Corona-Pandemie bewusst geworden, wir mühselig es auf Dauer ist, alleine zu trainieren. Und auch die Online-Programme werden irgendwann fade. Es fehlt die Energie der physikalischen Interaktion und auch der soziale Druck, doch mit dem Training zu beginnen.

Um es abstrakter zu sagen: Der Verein und die Gemeinschaft kann einen von der inneren Peitsche entlasten. Oder andersherum: Je weniger sozial eingebunden ich meinen Weg gehe, desto härter muss ich mich selbst disziplinieren. Der heutige Individualismus, wie er uns etwa auf Instagram begegnet, verkennt aber diesen tragischen Zusammenhang. Immer sollen wir Einzelnen es sein, die unsere Ziele erreichen können – wenn wir uns aufraffen.

So ist es auch in der vermeintlich einsamen Meditation gerade traditionell so, dass sie immer eingebunden ist in eine Gemeinschaft (sangha). Wir sollten dieses Angewiesen-Sein nicht als Makel sehen, sondern vielmehr als Ausdruck davon, dass wir Menschen soziale Wesen sind.

Vielleicht ist daher die wichtigste Kunst nicht so sehr die Fähigkeit anzufangen, sondern ein Dojo (Übungsraum, hier: Schule) zu suchen, in dem es sich leichter beginnen lässt – immer und immer wieder.


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