Extremes Zentrum #1: Warum die Mitte nicht gleich die Mitte ist

Was heißt es, das Zentrum im Aikido zu üben? Entweder wir lesen die Grafik von links nach recht oder andersherum…

Von was sprechen wir eigentlich, wenn wir im Aikido vom „Zentrum“ sprechen? Oder vom „Weg der Mitte“? Leider zu häufig von zwei ganz unterschiedlichen Dingen. – Auftakt meiner kleinen Serie zu einem fundamentalen Prinzip des Aikido (und des Lebens überhaupt 😉).

Es gibt ein Prinzip oder Ideal, das mich schon lange umtreibt: die Mitte oder das Zentrum. Ich halte es für einen ethischen Orientierungspunkt – und hadere doch mit manchen seiner Konsequenzen.

Als erstes stieß ich auf diese ominöse „Mitte“ als ich mich als Jugendlicher mit dem Buddhismus auseinandersetzte. Der „Weg der Mitte“ bezeichnet hier u.a. die Vermeidung von Extremen: weder Hedonismus auf der einen noch Askese auf der anderen Seite. Dieser „Weg der Mitte“ ist zwar zu einem Klischee geworden, aber so wie ihn beispielsweise Hermann Hesse in seinem Siddhartha beschrieb, übte er einen ungeheuren Reiz auf mich aus.

Apropos Klischee: Hermann Hesses Siddhartha hat ziemlich wenig mit dem historischen Siddhartha Gautama zu tun. Hesse markiert das zwar in seiner Erzählung geschickt durch die Spaltung des historischen Buddhas vom Protagonisten. Wie sehr aber Hesse eigentlich einen „westlichen“ Sinnsucher aus dem Religionsstifter Siddhartha Gautama gemacht hat, wurde mir erst beim Schreiben meiner Dissertation klar (vgl. S. 219 ff.).

Ich stieß etwa zeitgleich auch in den Kampfkünsten auf diesen Wert der Mitte, und ganz besonders als ich mit Aikido anfing. Auch wenn hier und in vielen anderen Kampfsport- und Kampfkunstarten meist von dem „Zentrum“ gesprochen wird — es gibt doch eine große Schnittmenge: die körperliche und innere Stabilität, Ruhe und Gelassenheit.

Welche Mitte? Viele Konsequenzen

In den letzten Jahren haben sich bei mir allerdings Zweifel an diesem Konzept breitgemacht. Oder genauer gesagt: Es hat sich eine andere Vorstellung davon entwickelt, was denn diese Mitte oder dieses Zentrum eigentlich genau ist. Das ist keineswegs trivial. Denn das Ideal der Mitte ist in den Kampfkünsten wesentlich. Damit will ich sagen, dass die Art und Weise, wie wir über das Zentrum denken, einen großen Einfluss auf viele andere Konzepte, Vorstellungen und Werte der jeweiligen Kunst hat. Wie wir die Mitte denken, beeinflusst unsere innere Haltung, die Art, wie wir uns bewegen oder wie wir unterrichten. Kurzum, es bestimmt das Ethos des Budo und der Budoka (jap., etwa Kampfkunst-Übende).

Da das Ideal der Mitte so weitreichende Konsequenzen hat, werde ich die verschiedenen Facetten in jeweils eigenen Blog-Beiträgen ausführen. Zum Auftakt dieser Serie will ich zunächst versuchen, die zwei unterschiedlichen Vorstellungen von „Mitte“ möglichst präzise zu unterscheiden. Das wird nicht in aller Schärfe gelingen – manches wird erst in der konkreten Anwendung deutlich. Und trotzdem: Hier kommt sie, meine kleine Theorie der Mitte. 🤓

Das statische Zentrum

Um die beiden Formen zu unterscheiden, finde ich zwei einfache Gedankenspiele recht anschaulich.

Das erste Gedankenspiel:

Stelle dir kurz mal eine Scheibe vor, z.B. ein kleiner Teller, der vor dir auf dem Tisch steht. Wo ist das Zentrum des Tellers? Ganz einfach: Du kannst den Durchmesser ausmessen und durch zwei teilen, du kannst es wahrscheinlich auch ganz gut intuitiv schätzen oder du nimmst den Teller einfach hoch und probierst es mit einem Finger aus. Welche Methode du auch nutzt, du wirst die Mitte ziemlich schnell und einigermaßen zuverlässig ermittelte können.

Jetzt schaue dir an, wie sich der Teller bewegt, wenn du ihn z.B. hochnimmst: Das Zentrum des Tellers bewegt sich immer exakt so wie der Rest, oder andersherum gesagt: Die Bewegung des Randes ist eine Funktion der Bewegung des Zentrums.

Bitte stelle dir nun vor – jetzt brauchen wir hier etwas Fantasie! –, der kleine Teller dehnt sich plötzlich aus und vor dir steht ein riesiger Pizzateller. Was verändert sich nun an dem bestimmten Zentrum?

Richtig: Gar nichts! Das Zentrum bleibt an Ort und Stelle. Die Größe des Tellers mag zwar relevant für unsere Muskeln sein (Gewicht), für das Zentrum aber ist sie völlig irrelevant.

Für mich symbolisiert dieses Gedankenspiel die erste Vorstellung des Zentrums. Es ist ein statisches Zentrum, da es

  1. von der Größe des Köpers unabhängig ist und
  2. in einem deterministischen Verhältnis zur Peripherie steht.

Um dieses statische Zentrum ein wenig abstrakter zu definieren: Das statische Zentrum ist invariant gegenüber seiner Umwelt. Die Faustregel ist: Je zentrierter, desto invarianter. Es bestimmt sich sozusagen aus sich selbst heraus.

Das dynamische oder extreme Zentrum

Das zweite Gedankenspiel:

Stell dir nun eine Person vor, die über ein kurzes Seil balancieren will. Sagen wir, sie heißt Kae. Es ist ein starkes Seil, das zwischen einem 20cm großen Spalt gespannt ist. (Nun gut, Kae könnte auch einfach über den Spalt springen, aber es ist ja nur ein Gedankenspiel.) Wann würdest du sagen, dass Kae zentriert ist? Wahrscheinlich, wenn Kae auf dem Seil bleibt und nicht herunterfällt, weder zur einen noch zur anderen Seite kippt.

Stelle dir jetzt vor, dass sich der Spalt plötzlich vergrößert (und das Seil mitwächst… 😳), während Kae auf dem Seil steht. Jetzt sind es nicht mehr 20cm, sondern 20 Meter, die Kae überwinden muss. Was heißt das jetzt für unsere Frage nach dem Zentrum? Klar, du würdest wahrscheinlich sagen, an der Definition des Zentrums ändere das nichts: Kae müsste sich eben weiter auf dem Seil halten können.

Aber ist ist es jetzt noch dieselbe Qualität?

Ich würde sagen: Nein! Je größer der Spalt, desto zentrierter muss Kae sein. Und damit veranschaulicht dieses Gedankenspiel für mich die zweite Konzeption des Zentrums. Es ist ein dynamisches, extremes Zentrum. Warum?

  1. Weil dieses Zentrum von der Größe des Seils abhängig ist.
  2. Weil es in einem dynamischen Verhältnis zur Peripherie steht (die Situation verändert sich, je nachdem wie sehr das Seil schwingt).

Kurzum und abstrakter gesagt: Das extreme Zentrum bestimmt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern von den Polen her, zwischen denen es sich befindet. Es ist nicht invariant gegenüber seiner Umwelt, sondern muss sich in unterschiedlichen Umwelten bewähren und neu finden.

Während für das statische Zentrum gilt „Je zentrierter, desto invarianter gegenüber der Umwelt“, gilt für dieses dynamische, extreme Zentrum „Je heterogener die Umwelten, in denen sich Kae bewährt, desto zentrierter“.

Ufff… Ja, aber das war (super)wichtig

Zugegeben, das war jetzt sehr abstrakt. Und wie ich oben schon geschrieben habe: So ganz trennscharf ist das noch nicht. Vielleicht fallen mir bald noch bessere Gedankenspiele ein, um den Unterschied anschaulicher zu machen.

Aber, ich verspreche es: In den folgenden Beiträgen wird die Unterscheidung zwischen dem statischen und extremen Zentrum deutlicher und vor allem die ganze Tragweite dieser Unterscheidung sichtbar. Denn ich will zeigen – Vorsicht: Pathos 😬 –, dass das statische Zentrum zu körperlicher Starrheit, didaktischer Monotonie und ethischem Starrsinn führt, während das extreme Zentrum mit körperlicher Geschmeidigkeit, didaktischem Experimentalismus und ethischer Leichtigkeit einhergeht. Man könnte also auch sagen: Es geht ums Ganze.

To be continued.


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