Fortschritt durch Reduktion: Aikido als Vorbild?

Energiekrise, Klimakrise, Ökokrise – die aktuellen Krisen erschüttern das Paradigma des endlosen Wachstums. Und so seltsam das klingen mag: Das hat einiges mit Aikido zu tun.

Ich habe mich die letzten Wochen angesichts der Energiekrise nicht nur gefragt, wie es denn nur zu sowas kommen konnte (Stichwort: Abhängigkeit, verschleppte Energiewende etc. pp.) und wie ich mein Leben entsprechend anpassen muss (Stichwort: Heizung). Ich habe mich auch gefragt (mal wieder), was denn die weltpolitische Lage mit Aikido zu tun hat…

Das mag verwundern, denn schließlich ist Aikido meist maximal weit entfernt von Energie-, Klima- und Sicherheitspolitik. Aber Krisen wie diese stellen uns ja nicht nur vor praktische, politische Probleme. Sie stellen uns zusätzlich auch die bohrende Frage, wie und nach welchen Maßstäben wir eigentlich leben, und ob diese denn die richtigen sind.

Das V der Moderne

Was aber ist der gegenwärtige Maßstab? Unsere Moderne zeichnet sich, so hat es am pointiertesten der Soziologe Hartmut Rosa beschrieben, durch eine soziale Beschleunigung aus. Genauer gesagt: Unsere Gesellschaft funktioniert nur unter der Bedingung des beständigen Wachstums, der immer neuen Innovationen, des kontinuierlich anwachsenden Konsums (im Fachsprech: Wir haben es mit einer „dynamischen Stabilisierung“ zu tun).

Eigene Illustration. Der expansive Fortschritt basiert auf unendlichen Wachstum.

Dieses beständige Wachstum hat einiges für sich: mehr Wohlstand, mehr Luxus usw. (Sehr gut dargestellt übrigens von Ulrike Hermann.) Aber: All dies basiert (zumindest bisher) auf dem massiven Verbrauch von fossilen Energien und auf der krassen „Umwälzung“ der Natur (seltene Erden, Tagebaue, Betonherstellung, Abholzung etc.). Die Folgen sind ja mittlerweile bekannt: Artensterben, Klimaerhitzung, Extremwetter.

All das lässt sich völlig zurecht als „Krise“ bezeichnen, denn all die einzelnen Bereiche – Energie, Klima, Umwelt – führen uns direkt auf die nicht mehr tragbare Grundlage unseres Wohlstands. Von weniger zu immer und immer mehr ohne Ende – diese Logik symbolisiert das V (also von unten nach oben „gelesen“).

Das ♦️ des Aikido

Zu Beginn eines Aikido-Weges erschlägt uns wohl die Fülle an Techniken, Begriffen und neuen Bewegungsmustern. Ich habe nie die Anzahl der Techniken gezählt, die in meinem Stil geübt werden. Aber es sind viele, sehr viele. Zu Beginn besteht deshalb das Training in der Erweiterung unseres „Aikido-Vokabulars“. Wir lernen eine Technik nach der anderen. Unser Arsenal wächst beständig.

Illustration des Modells für Fortschritt im Aikido
Der Fortschritt des Aikido basiert nur zu Beginn auf Expansion. Danach basiert er auf einer unendlichen Reduktion.

Dann jedoch kommen wir an einen Punkt, an dem es nicht mehr darum geht, neue Techniken zu lernen oder uns einigermaßen mit diesen zu arrangieren. Wir wiederholen die Techniken also nicht mehr, um sie zu erinnern und anrufen zu können. Es geht jetzt vielmehr darum, die Techniken zu verbessern. Neben dem quantitativen Fortschritt tritt nun verstärkt ein qualitativer.

Worin aber besteht dieser? Es geht darum, alles Unnötige wegzulassen, nur das zu bewegen, was essenziell ist für eine Technik. Dabei ergibt sich ein paradoxer Effekt: Je mehr wir uns dem Kern einer spezifischen Technik nähern, desto mehr erkennen wir, dass uns auch andere Techniken leichter fallen. Die Komplexität und Vielfalt nähert sich einer Einfachheit an. Dieser qualitative Fortschritt ist auch sichtbar bei vielen Aikidoka: Je älter sie werden, desto weniger spektakulär, desto unprätentiöser wird häufig ihr Aikido.

Es ist wie mit einem Karo-Symbol: von wenig (aka schmal, unten) zu viel (aka breit, Mitte) hin zu wenig (aka schmal, oben).

Kunst des Weglassens

Um es anders auszudrücken: Wir üben uns im Aikido in einer Kultur des Weglassens. Auch der Weg des Aikido ist ein Weg des unendlichen Fortschritts. Aber wir üben nicht, um immer mehr zu verbrauchen und immer anzueignen, sondern um effizienter, einfacher, schlichter, schöner zu werden.

Ich denke, es ist dieser Aspekt des Aikido (und vielleicht der Budo-Künste insgesamt), den viele lieben und dem viele nichts abgewinnen können: Nur zu Beginn folgt der Weg der Logik der Expansion. Alsbald dreht sich das Ganze um, und wir befinden uns in einer unendlichen Spiralen nach innen, zum Weniger. Die einen mögen es lieben, da es ein wohltuender Kontrast ist zum Wachstums- und Innovationsdruck des modernen Lebens. Andere leiden womöglich an der Langweile der unendlichen Wiederholungen des (scheinbar) Immergleichen (dazu mehr in diesem Beitrag von mir).

Kulturimpuls, keine Lösung

Natürlich: All das ist alles andere als eine politische Antwort auf die politischen Herausforderungen unserer Zeit. Und dennoch üben wir vielleicht im Aikido etwas ein, dass für unsere Gesellschaft zunehmend an Wert gewinnt und gewinnen muss: ein langfristig ausgelegter Übungsweg, der auch in der Reduktion einen Fortschritt erblickt. Fortschritt durch Verbesserung.

Würden also alle Sorgen vergehen, wenn nur alle Aikido machen würden? Wohl kaum! Der Verzicht auf Wachstum mag kurzfristig helfen (etwa, um den kommenden Winter zu überstehen). Langfristig aber würde die kollektiv praktizierte Kunst des Weglassens an dem Ast sägen, auf dem wir alle sitzen. Denn, ich wiederhole mich, unsere Gesellschaft basiert auf Wachstum – wächst sie nicht, implodiert sie.

Die Kultur der Reduktion, die wir im Aikido üben, kann also nur eine notwendige, nie eine hinreichende Bedingung sein für eine wirkliche Lösung der Krisen. Aber das ist doch immerhin mehr als nichts.


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Ein Kommentar

  1. Interessanter Ansatz, die von uns Menschen verursachte Klimakrise mit einem expansiven Üben im Aikido in Zusammenhang zu bringen. Und ich stimme dem zu, dass äußere Technik quantitative Grenzen hat, aber für die qualitativen gilt, hinterm Horizont geht’s weiter. Leider gibt es aber nicht hinreichend genug lange und intensivst übende Aikidoka, die dieses auch repräsentieren können. Und dann auch noch einen wie auch immer gearteten Einfluss auf ihre Schüler nehmen können. Geschweige denn auf die Mehrheit der Gesellschaft. Außerdem ist die Gesamtanzahl der Aikido-Übenden verschwindend gering in Bezug auf die Gesamtmasse der Sporttreibenden. Und von diesen relativ wenigen üben die allerwenigsten so intensiv, welche die oben skizzierten Fortschritte ermöglichen könnte.

    Nicht zu vergessen, Aikido wird in der knappen Freizeit ausgeübt, die Familie und Beruf noch übrig läßt.

    Insgesamt aber eine durchaus interessante und anregende Idee. Ein Gedankenspiel mit vielleicht und höchstens individuellen, auch praktischen Konsequenzen.

    Aber letztlich geht es ja darum, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und dann etwas zu tun, ohne gleich den Anspruch zu erheben, die Welt verbessern zu wollen. Denn es hat Generationen gebraucht, das Klima in eine derartige Krise zu bringen, und es wird Generationen brauchen, um das Klima davon wieder abzubringen. Vorausgesetzt, das Klima gibt uns die Zeit dazu.

    Auch bin ich davon überzeugt, dass wir selbst es sind, die wir mit unserer Wachstums-Ideologie den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Vielleicht wäre ja eine auf Nachhaltigkeit basierende Wirtschaft eine überlegenswerte Alternative.

    Interessant, was O‘Sensei mal gesagt haben soll: bekämpft eure inneren Feinde, denn sie erzeugen immer wieder neue äußere Feinde. Aber das ist eine andere Geschichte.

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