Extremes Zentrum #2: Im Zentrum sein, um in der Welt zu sein

Symbolbild: Enges und weites Zentrum. Zwei Kästen; ein Kreis innerhalb des Kastens, ein Kreis überschreitet diese Kästen.

Im zweiten Teil meiner kleinen Serie zum fundamentalen Prinzip des Aikido – dem Zentrum – geht es um die Art und Weise, wie wir uns bewegen. Welche Konsequenzen ergeben sich für eine Kunst des Körpers, wenn wir nicht ein statisch-enges, sondern ein dynamisch-extremes Zentrum zu etablieren versuchen?

Uns an Babys messen

Beginnen wir mit zwei Videos. Schaut sie euch gerne an, bevor ihr weiterlest (wenn keine Zeit, folgt sogleich eine kurze Zusammenfassung).

Das erste Video zeigt den Aikido-Meister Morihiro Saito, wie er eine Basistechnik ausübt. Ich bewundere ihn für seine klare Ausführung (schließlich stehe ich auch in der Tradition seines Aikidos). Mir geht es in dem Video jedoch darum, wie sich der Uke (Übungspartner, der „Angreifer“) bewegt. Wenn sein Arm nach unten geführt wird, knickt er in der Hüfte ab (vgl. Sekunde 10). 

Im zweiten Video ist ein Baby zu sehen, das spielt. Wenn es etwas vom Boden aufhebt, geht in die Hocke. Es bückt sich nicht, es knickt nicht im Oberkörper ab. 

Warum interessiert mich das? 

Nun, hier sehen wir ganz unmittelbar, was es heißt, im Zentrum zu sein. Meiner Ansicht nach ist nicht der Aikido-Uke, sondern das Kind im Zentrum. Es bewegt sich so, als ob es mit dem Zentrum des Körpers „denkt“: Wenn es nach unten geht, beginnt es die Bewegung nicht mit dem Kopf und verliert darüber die gute, integrierte Haltung, sondern der Impuls der Bewegung entspringt der Körpermitte (zumindest organisiert sich die Bewegung um die Körpermitte herum).

Ich weiß nicht, wann wir Menschen beginnen, uns zu bücken, statt schlicht in die Hocke zu gehen. Irgendwann beginnen wir damit – und leider setzt es sich viel zu häufig im Aikido fort. 

Unbestritten: Das Ukemi (die Aufnahme der Techniken) ist zumeist viel komplexer, als einfach in die Hocke zu gehen. Doch 1. ist das schlichte Aufheben eines Gegenstandes vom Boden ein guter Test für unser Zentriert-sein und 2. sollte die Übung des Aikido ja gerade darin bestehen, selbst in extremeren Situationen im Zentrum zu bleiben. Aber der Reihe nach… 

Exkurs: Zentrum, hara, tanden

Jetzt habe ich bereits eineinhalb Beiträge über das „Zentrum“ geschrieben, ohne auf die japanischen Begriffe einzugehen. Zeit, das schleunigst nachzuholen. 

Der Begriff für das „Zentrum“ ist im Japanischen hara und tanden. Während ersteres etwas größer ist und die Region des Bauches umfasst, ist letzteres spezifischer: Tanden bezeichnet einen Punkt etwa zwei Finger breit unterhalb des Bauchnabels. Das ist also ziemlich genau der physikalische Schwerpunkt des Körpers bei einer idealen Haltung. 

Das entscheidende ist nun, dass im Japanischen das hara und tanden nicht nur eine physikalische, sondern auch eine „energetische“ Dimension aufweisen. Besonders deutlich wird das bei der Übersetzung von tanden.

Eine kleine Fußnote zum Begriff hara: Hara heißt wörtlich übersetzt schlicht „Bauch“ oder „Magen“, was aber nicht heißt, dass damit lediglich das Organ gemeint ist.

Tanden lässt sich nämlich recht poetisch mit „zinnoberroten Reisfeld“ übersetzen. Aha, denkt ihr euch jetzt vielleicht, wo liegt der Clou? Nun ja: Reis stellt in Japan und China das Grundnahrungsmittel dar (tanden ist auf Chinesisch dantien und nimmt in den jeweiligen Künsten eine ähnliche Stellung ein). Das Reisfeld lässt sich also metaphorisch als die Basis des Lebens deuten. Und so wird tanden als energetisches Zentrum des Menschen, als Quelle des Ki(jap., u.a. „Energie“) verstanden. 

Dieses Zentrum tanden hat wiederum drei Ebenen: eine körperliche, eine mentale und eine geistige.

  1. Die körperliche Ebene gibt zunächst an, dass Bewegungen im Aikido und im Budo allgemein aus diesem Zentrum heraus initiiert werden sollen und sich der Körper um dieses Zentrum organisiert. Eine hochgezogene Schulter beim Stehen etwa gilt als unzentriert, da sie einer entspannten Organisation ums Zentrum herum widerspräche. 
  2. Die mentale Ebene beschreibt dann den Anspruch, sich diesem Zentrum kontinuierlich während der Ausübung der Techniken (und darüber hinaus) bewusst zu sein; sich also mental in der Körpermitte zu verankern. 
  3. Die geistige Ebene schließlich beschreibt den Anspruch, sich durch diese Verankerung im tanden als „Zentrum der Welt“ zu fühlen oder weniger pathetisch formuliert: Den äußeren Umständen nicht hilflos ausgeliefert und nicht zerstreut zu sein. Als Gegenbegriff zur Zerstreutheit hat es daher viele Überschneidungen zur geistigen Übung, die ich bereits woanders beschrieben habe.

Diese letzte Ebene beschreibt etwa der Aikido-Lehrer Stefan Stenudd in seinem Buch AIKIDO – die friedliche Kunst wie folgt:

Das Zentrum des Menschen im asiatischen Denken ist […:] Im Kern meines Wesens selbst gibt es keinen Zweifel – es gibt mich und ich bleibe, durch alle Abenteuer und Umwälzungen hindurch. 

Genug aber der Begriffsarbeit. Ich möchte nun zwei Merkmale des vorrangig körperlichen Zentrums herausstellen, die für mich wesentlich für ein dynamisch-extremes Zentrum sind: die geschmeidige Verkettung und die ruhige Offenheit. 

Merkmal 1: geschmeidige Verkettung

In der chinesischen Kampf- und Bewegungskunst Taiji gibt es einen bekannten Lehrspruch: Wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich alle Teile („If one part moves, all parts move“). In einem spannenden Youtube-Video zu diesem Satz macht der Taiji-Lehrer Adam Mizner genau den Unterschied, den ich mit dem statischen und dem dynamischen Zentrum machen möchte.

Laut Mizner werde nämlich viel zu häufig dieser Leitsatz missverstanden als ein „alle Teile müssten sich synchron bewegen“. So verstanden, müsste sich der Körper als ein Block durch den Raum schieben. Richtig sei dieser Satz aber nur mit einem dynamischen Bild zu veranschaulichen: ein Stein, der ins Wasser falle, und Wellen erzeuge.

Zentriert zu sein heißt demnach weder, dass sich alle Körperteile genau gleich, noch, dass sich alle Körperteile in exakt demselben Moment bewegen. Es meint vielmehr: Alle Körperteile sind miteinander verkettet, so dass sich ein Bewegungsimpuls ohne Blockaden im Körper ausbreiten kann. Metaphern wie „Kompaktheit“, „Felsen“ usw. gehören dem statischen Zentrum an; Metaphern wie „Welle“, „Peitschenartig“ usw. dem dynamischen Zentrum.

Konkret veranschaulichen lässt sich das mit den eingangs verlinkten Videos:

  • Der Uke im Video bewegt sich eher wie ein Block. Ich schreibe „eher“, da er sich genau genommen wie zwei Blöcke bewegt (Unterkörper und Oberkörper). Wenn sich bei ihm „ein Teil bewegt“ (der Ellenbogen durch die Technik), dann bewegen sich bei ihm nicht „alle Teile“, sondern es bewegen sich zwei Blöcke. Gerade das „Zentrum“ bleibt dabei passiv bzw. ist nicht als relevanter Ankerpunkt der Bewegung erkennbar. 
  • Das Baby hingegen senkt seinen Körperschwerpunkt ab („Wenn sich ein Teil bewegt“) und es „bewegen sich alle Teile“ davon ausgehen in einer funktionalen Kette geschmeidig. Das Baby zentriert sich im Stehen wie auch in der Hocke ums Zentrum herum.

Merkmal 2: ruhige Offenheit

Die dynamische Bestimmung des Zentrums allein ist aber nicht ausreichend. Es qualifiziert lediglich die Art und Weise der zentrierten Bewegung. Das zweite notwendige Kriterium für Zentrierung ist die ruhige Offenheit. 

Damit meine ich zweierlei: Der Körper ist in einem zentrierten Zustand fähig, sich in vielfältige Richtungen zu bewegen, ohne diese Bewegung extra vorbereiten zu müssen. Idealtypisch kommt dies etwa in der Grundstellung des Aikido zum Ausdruck (hanmi). Diese ausbalancierte Körperhaltung ermöglicht eine Bewegung gleichermaßen nach vorne, links, rechts, nach hinten usw. 

Diese Offenheit gilt aber nicht nur für die Ausgangsposition. Auch für das ukemi ist sie entscheidend: Denn unabhängig davon, welche und wie eine Technik ausgeführt wird, muss der Körper immer fähig sein, die Technik „aufzunehmen“, ohne dass einzelne Körperteile verletzt werden. Gerade durch widerstreitende Bewegungsrichtungen aber entsteht Spannung im Körper, die im Extremfall zu Verletzungen führen kann. Ein nicht zentriert Körper tendiert in eine Richtung – und es bleibt dem Zufall überlassen, ob es die „richtige“ Richtung sein wird. Ein zentrierter Körper hat hingegen viele Möglichkeiten.

Diese Offenheit wiederum korrespondiert mit einer mentalen Haltung: Es ist die Haltung, nicht zu viel zu antizipieren, sondern voll fokussiert in der konkreten Situation zu sein, sich der Gegenwart voll hinzugeben. Beispiel Ukemi: Erwarte ich eine bestimmte Technik, wird sich mein Körper darauf einstellen (und mag es nur äußerst subtil sein) und folglich mit einer„anderen Gegenwart“ hadern.

Paradox

Zusammenfassend könnte ich es etwas pathetisch formulieren: Je zentrierter ich bin, desto freier bin ich, mich auf verschiedene Weisen zu bewegen und auf die gegenwärtige Situation zu reagieren. 

Darin steckt ein schönes Paradox: Je mehr ich mich zentriere, desto mehr kann ich mich für die Welt öffnen. Während ein enges, statisches Zentrum letztlich dazu führt, das Äußere als Gefährdung seiner selbst zu erfahren, lebt das dynamische Zentrum von den Möglichkeiten, die der Raum bietet, lebt es davon, sich in den Raum auszubreiten. 

Deshalb ist im Aikido-Training auch nicht nur das Technik-Training wichtig; vor allem in der Rolle des Ukes können wir uns in einem dynamischen Zentrum üben: Je mehr wir uns zentrieren, desto mehr in der Übung spontan passieren, ohne dass es für uns zum Widerfahrnis wird.


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