Egal ob uns vor lauter Wiederholung die Langeweile überfällt oder wir angesichts all der kleinen Details überfordert sind – die Lösung ist im Aikido-Training meist ein und dieselbe: Fokussierung. Und nicht nur dort.
Es gibt wohl wenige Sprichwörter, die ich so gerne mag und so häufig verwende, wie dieses:
Eins nach dem anderen.
Und während ich soeben über den Titel dieses Beitrags nachgedacht habe, fiel mir ein noch schöneres ein:
One thing at a time.
Beides meint wohl dasselbe und die gängigen Übersetzungsmaschinen übersetzen das eine auch mit dem jeweils anderen. Und doch trifft das Englische Sprichwort noch besser das, worum es mir in diesem Beitrag geht: die Kunst der Fokussierung.
Ich meine nämlich nicht so sehr das „Abarbeiten“, was der deutschen Variante ein wenig anhaftet. Vielmehr geht es mir um den gekonnten Umgang mit der wohl oder übel auftretenden Überforderung und Langeweile. Und um ein selbstbestimmtes und gelingendes Lernen.
Inhalt
2 Herausforderungen beim Aikido – und darüber hinaus
Für das Aikido-Training gilt, was auch für die meisten anderen Bewegungskünste gilt: Um bestimmte Fähigkeiten zu meistern, zählen viele Details und es bedarf vieler Wiederholungen. Hinzu kommt beim Aikido, dass die Perfektion ein Horizont bleibt, auf den wir uns zubewegen und den wir zugleich nie erreichen. Aikido besteht im beständigen Üben.
Der Aikido-Weg ist damit aber mit zwei Herausforderungen konfrontiert:
- Da viele Details zählen und die Techniken und Bewegungsabläufe zunächst so ungewohnt sind, droht am Anfang – und wenn das Training fruchtbar bleiben soll: immer wieder – Überforderung. Es sind zu viele Dinge, auf die es zu achten gilt.
- Da wir die Techniken immer und immer wieder üben, damit sie in Fleisch und Blut übergehen, droht aber alsbald unser Interesse zu schwinden. Die Frische des Anfänger-Geistes verwelkt. Die Aufmerksamkeit schweift ab. Vielleicht überkommt uns sogar Langeweile.
Überforderung und Langeweile: Beides lässt uns fahrig werden. Und damit verlängert sich der unruhige, schwirrende Geist des Alltags ins Dojo hinein. Auch im Alltag kennen wir ja diese beiden Zustände: einerseits die Überforderung durch einen Berg an Aufgaben, un-endlichen Nachrichten und permanenter Entscheidungsnot; andererseits die Erfahrung, dass uns schnell etwas langweilt, nur weil es nichts Neues für uns bereithält. Ich meine sogar, dass beides ein Symptom unserer Zeit ist. Doch dazu ein andermal mehr!
Ein Fokus-Thema pro Einheit
In der GMB Methode, mit der ich mich in letzter Zeit intensiv auseinandergesetzt habe, bin ich auf eine ganz praktische Lösung für dieses Problem gestoßen: Das Arbeiten mit sogenannten „cues“. Solche „Stichwörter“ oder „Hinweise“ sind nichts ungewöhnliches. Sie werden auch in vielen anderen Sportarten wie etwa im Yoga verwendet.
Cues sind einfache Hinweise, auf was beim Ausführung einer Übung zu achten ist. Die Frage ist nur, a) wie hilfreich die jeweiligen Hinweise sind und b) wie viele Cues wir als Lehrende geben oder an wie viele wir uns als Übende orientieren sollten.
Ich denke, die Sache ist ganz einfach:
- a) Ein Hinweis muss ein gewünschtes Verhalten wahrscheinlicher machen.
- b) Ein Hinweis pro Übung genügt.
Was das konkret heißt? Vor jeder Übung sollten wir uns als Lehrende und Übende fragen, worum es uns in dieser konkreten Übung geht: Koordination, Schnelligkeit, Timing, Entspannung, Aufrichtung, Ausdehnung, Atmung, Bewegung der Hände, der Finger etc. pp.
Aus dieser Fokussierung resultiert ein doppelter Effekt: Die Überforderung weicht einer klaren Aufgabenstellung – und die Langeweile einem neuen Gesichtspunkt. So gesehen ist sowohl Überforderung als auch Langeweile zunächst nur das: ein Ruf nach einem guten Cue!
Richtung Eigenständigkeit
Je fortgeschrittener wir werden, desto mehr liegt es an uns, eigenständig mit inneren Hinweisen zu arbeiten. Das gilt sowohl für das eigenständige Üben als auch für das Training in der Gruppe.
Das liegt in der Natur des Gruppenunterrichts: Die Lehrenden geben tendenziell allgemeine Hinweise, die für die meisten verständlich sind – aber nicht für jede:n zu 100 Prozent passend. Deshalb sollten wird so früh wie möglich beginnen, eigenständig mit Cues zu üben – vielleicht erst zuhause mit den Hinweisen, die uns im Gedächtnis geblieben sind. Irgendwann dann beginnen wir eine Stunde mit einer eigenen Agenda.
Beispiel: Kata
Schauen wir uns zum Beispiel das Üben mit dem Stock (jap. jo) an. Im Aikido gibt es nicht sehr viele festgelegte Bewegungsabfolgen (jap. kata). Umso häufiger können wir dementsprechenden die jeweiligen Katas üben. Beispielsweise die 31 no jo kata (dt. etwa: die 31 Bewegungen mit dem Stock). Die permanente Wiederholung birgt natürlich die Gefahr, dass wir sie irgendwann nur noch „abspulen“.
Die Konsequenz: Wir werden voraussichtlich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr besser. Denn nur wenn wir eine Diskrepanz feststellen, zwischen Ist und Soll, lernen wir. Wir müssen uns an etwas reiben, nach etwas suchen oder experimentieren, um langfristig zu lernen.
Nachdem wir also die groben Bewegungsabläufe verinnerlicht haben, ist es an der Zeit, mit neuen Cues zu arbeiten. Diese könnten sein:
- Halte nach jeder Bewegung für zwei Sekunden inne
- Schleife nicht das hintere Bein, sondern setze es aktiv
- Schaue in die Ferne, nicht auf den Stock
- Entspanne die Schultern
- etc.
Kurzum: Es gibt tausende Zugänge für ein und dieselbe Übung. Oder wie es mal der Lehrer Robert Nadeau in einer Stunde sagte (sinngemäß und auf mein Beispiel übertragen): Es gibt unendlich viele 31-no-Jo-Katas.
Neben den bereits genannten zwei Vorteilen gibt es also noch einen dritten:
- Uns wird nicht langweilig, weil wir dasselbe anders erfahren.
- Wir sind nicht überfordert, weil wir uns auf ein Ding fokussieren.
- Wir merken Fortschritt, weil wir uns einem Aspekt genauer widmen und lernen, genauer hinzuschauen.
Eins nach dem anderen
Dieser kleine aber entscheidende didaktische Kniff ist ein Musterbeispiel, Aikido als Ritual zu verstehen. Wir üben uns nämlich damit in einer Haltung zur Welt, die dem schwirrenden Alltag und der permanenten Multitasking-Verführung etwas entgegensetzt.
Vielleicht entdecken wir dabei auch, dass dieses Multitasking ein ziemlicher Humbug ist – sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Uns stresst es nicht, zu viel gleichzeitig zu machen. Schließlich können wir auch Gehen und Nachdenken zugleich. Uns stresst vielmehr, dass wir viel zu schnell und viel zu häufig von einem Ding zum anderen springen (müssen).
Vieles davon ist in unserer Gesellschaft begründet. Zweifellos. Manches ist aber nicht notwendigerweise so. Beispielsweise ließe sich im Arbeitsleben für Zeiten für konzentrierte Eigenarbeit streiten. Vielleicht werden ja Möglichkeiten wie diese sichtbarer und wichtiger, wenn wir nach dem Training am nächsten Morgen wieder zur Arbeit gehen.