Kampfkunst in Zeiten des Krieges: 3 Gedanken

Friedenszeichen; © Von Gerald Holtom (DW: MartínRománMangas) - Peace symbol by Gerald Holtom, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79629734

Der russische Angriff auf die Ukraine ist zweifellos ein Bruch. Die neue Gegenwart zermalmt den Rahmen, durch den wir bisher die Zukunft betrachtet haben. Durch solche Brüche erscheint das Alltägliche in einem neuen Licht. Wie denke ich in diesen Zeiten des Krieges über das, worüber ich in diesem Blog schreibe: über die Kampfkunst Aikido?

Es kam mir wie eine andere Welt vor, als ich am 24. Februar zur Arbeit fuhr. Den Menschen stand förmlich der Schock ins Gesicht geschrieben. Auch mir. Eine bedrückende, ängstliche Stille schien sich über die Welt gelegt zu haben. In den Nachrichten und Podcasts, die ich hörte, versagte den Moderator:innen die Stimme (ich empfehle den Podcast Das Politikteil von DIE ZEIT vom 24.2.).

Drei Tage später saß ich gebannt vorm Fernseher, als Bundeskanzler Scholz die Zeitenwende ausrief – und damit die seitdem gängige historische und politische Deutung vornahm. Ich habe so manche Zweifel an den politischen Konsequenzen dieser Zeitwende-Diagnose. Aber ich hatte unmittelbar das Gefühl, dass der Bundeskanzler damit die Lage und Stimmung des furchtbaren, mir kaum vorzustellenden Angriffskrieges angemessen erfasste.

Das Fundament wankt.

Zeitenwenden stellen (un)bewusste Annahmen und Grundsätze, die das Fundament unseres Zusammenlebens bilden, in Frage. Zeitenwenden erschüttern den Alltag. Sie stellen die Bedingungen zur Disposition, vor denen sich unser Leben bisher noch ganz gewöhnlich vollzog. Das Fundament wankt.

Dieses Wanken kann auch die eigenen Hobbys erfassen. Und das gilt ganz besonders, wenn die Leidenschaft dem breiten Feld der Kampfkünste gilt. Kommen sie nicht aus dem Bereich der Gewalt? Üben sie sich nicht gerade in der Verteidigung? Im Angriff? Im japanischen Sammelbegriff für die Kampfkünste, Budō, wird dieser Zusammenhang offensichtlich, lässt sich doch die erste Silbe mit „Militär“ oder „kriegerisch“ übersetzen. (Das gilt ebenso fürs Englische martial arts.)

(Eine kleine Fußnote in Klammern – in Ermangelung einer Fußnotenfunktion auf meinem Blog – zum deutschen Begriff Kampfkunst: „Kampf“ und „Krieg“ hängen zunächst eng zusammen. Der einflussreiche Militärhistoriker Carl von Clausewitz etwa bestimmte den Krieg als einen hoch skalierten Zweikampf [vgl. Binhack 1998: S. 16]. Diese Gleichsetzung überzeugt aber in der modernen Kriegsführung nicht mehr – zumal ja heutige Kampfkünste ohnehin vorwiegend die Situation von zwei oder drei unmittelbar miteinander im körperlichen Konflikt stehenden Menschen im Fokus haben.)

Diese Zeitenwende hat mich zu der fundamentalen Frage geführt: Welchen Sinn hat es, Kampfkünste in Zeiten des Krieges zu üben bzw. welche Perspektive erwächst in diesen Zeiten aus dem Üben der Kampfkünste?

Drei Facetten der Kampfkünste

Zweifellos eine Mega-Frage. Und ich habe auch keine abschließenden Antworten darauf. Eher ein paar wenige Impulse, die sich an den drei Facetten orientieren, die in den verschiedenen Kampfkünsten unterschiedlich stark betont werden. Diese drei Facetten sind:

  1. Kampfkunst als Sport. Kampfkünste werden häufig als Bewegungssport oder als Wettkampfsport ausgeübt. Zumeist spricht man dann von Gesundheits- oder Kampfsport (z.B. Taiji bzw. Kickboxen). Und auch wenn einzelne Disziplinen diese Facette nicht in den Fokus stellen, sind sie immer auch ein Sport im Sinne einer Bewegungskunst.
  2. Kampfkunst als Selbstverteidigung. So gut wie alle Kampfkünste üben Techniken, die im Ernstfall zur körperlichen Verteidigung dienen sollen. Manche, wie etwa das direkt im militärischen Kontext entwickelte Krav Maga, stellen diese Facette in ihren Mittelpunkt.
  3. Kampfkunst als Kunst. Häufig – und so auch ich in diesem Text bisher – wird „Kampfkunst“ in einem breiten Sinne verwendet, d.h. im Sinne eines Könnens (analog also etwa zum Begriff „Heilkunst“). Daneben wird aber auch mit „Kunst“ in „Kampfkunst“ eine spezifische, künstlerische Aktivität bezeichnet. In dem spezifischen Sinne geht die Kampfkunst nicht im „Kämpfen-Können“ auf, sondern der Zweck überschreitet die sichtbare Form. Das wird deutlich bei der japanischen Unterscheidung von Bujutsu und Budō. Ersteres ist die Kampf-Technik, die Kunst im Sinne des Könnens. Letzteres aber bettet das Üben der Techniken in einen Übungsweg (Do) ein, etwa zur Selbstbeherrschung.

Auf die Frage dieses Artikels, wie es sich mit dem Sinn der Kampfkünste in Zeiten des Krieges verhält, ergeben sich nun – so meine Intuition – den drei Facetten entsprechend drei unterschiedliche Impulse.

Kampfsport und Alltag

Betrachtet man den Kampfsport vereinfacht und abstrakt, dann ist er bestimmt durch die Unterscheidung von „Gewinnen“ und „Verlieren“. Zudem, von einer Außenperspektive gesehen, steht die Idee der Inszenierung eines Spektakels im Mittelpunkt – man denke an Box-Wettkämpfe, die einer Arena gleich im Ring ausgefochten werden.

Vielleicht sieht der Kampfsport aggressiver oder gefährlicher aus als andere Sportarten, aber der Logik nach unterscheidet er sich nicht von ihnen. Denn auch viele andere Wettkampfsportarten sind eben das: inszenierte Kämpfe um Sieg und Niederlage. Und viele andere Sportarten stammen zudem aus dem Bereich des Militärischen oder sind durch ihre Körper-Ertüchtigung zumindest historisch damit assoziiert.

Für den Bereich des Kampfsports stellen sich also zwei ganz grundlegende Fragen, die den Sport in seiner ganzen Breite angehen:

  • Ist das Versprechen der Bildung von Toleranz durch Wettkampfsport, wie es etwa im Olympischen Sportbund hochgehalten wird, allgemein überzeugend und gerade jetzt angemessen?
  • Wie verhält es sich mit dem Aspekt der Unterhaltung und des Spektakels in Zeiten wie diesen?

Daraus ergibt sich eine noch grundsätzlichere Frage, die über den Bereich des Sports hinausgeht:

  • Wie führen unseren Alltag in Zeiten des Krieges? Was können wir tun? Was sollten wir tun?

Wie gesagt: Ich habe darauf keine Antworte. Nur meine ins Wanken geratene Überzeugung, wonach die individuelle Pflicht zum direkten Einschreiten nicht zu begründen ist. Schließlich sind wir – zumindest je jünger, desto mehr – in die Welt hineingeworfen worden und haben als Individuen bisher wahrscheinlich nur kleine Spuren in ihr hinterlassen, für die wir in einem strengen Sinne verantwortlich sind.

Aber diese Überzeugung ist individualistisch überreizt. Als Teil eines Kollektivs erben wir ja eine Welt, für die das Land, in dem wir leben, verantwortlich ist. Politisch stehen wir – und damit jede:r Einzelne – in der Pflicht. Darüber hinaus erblasst die Frage der Pflicht angesichts der schieren Notwendigkeit. Glücklicherweise gibt es tausende Menschen, die sich der konkreten Not hier vor Ort annehmen: Flüchtende aufnehmen, an Bahnhöfen empfangen, die Nahrung in die Ukraine bringen.

Selbstverteidigung, ein fundamentales Recht

Die erste Facette der Kampfkunst führt also direkt zu ganz grundsätzlichen Fragen. Spezifischer sieht es bei der zweiten Facette aus, der Selbstverteidigung.

Es mag verschiedene Gründe geben, sich in der Selbstverteidigung zu üben: eine reale Bedrohung oder etwa der Wunsch nach Stärke oder Unbezwingbarkeit. Im Kern aber drückt sich in der Selbstverteidigung ein fundamentales Recht aus: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es ist vielleicht sogar eines der grundlegendsten Rechte, die wir haben.

Während der Kampfsport bestimmt ist durch die Unterscheidung „Gewinnen/Verlieren“, ist der Code der Selbstverteidigung: „Würde/ Verletzung“ oder auch „Überleben/Sterben“.

Weshalb ich, vor allem als pazifistisch sozialisierter Mensch, über die Selbstverteidigung nachgedacht habe, liegt auf dem Tisch: Die Perspektive der Selbstverteidigung korrespondiert mit einer politischen Überzeugung, dem politischen Recht auf Verteidigung. Das mag für eine:n Pazifist:in schwer zu akzeptieren sein. Aber mich überzeugen diejenigen Stimmen immer weniger, die jüngst etwa auf Osterdemos oder von einem Richard David Precht zu hören waren. Diese laufen doch darauf hinaus, das konkrete Recht auf Selbstverteidigung durch eine abstrakte Vision des Friedens oder durch ein utilitaristisches Kalkül der Leidensminimierung zu untergraben.

Natürlich: Vieles lässt sich bei einem detaillierten Blick auf konkrete Selbstverteidigungssituationen problematisieren. Auf dem Gebiet der Kampfkünste etwa: Wo ist der Übergang von Verteidigung zum Angriff? Wie sehr wird in manchen Vereinen oder Dojos eine Machokultur gepflegt? Inwieweit ist Selbstverteidigung ein „Vorwand“, kämpfen zu können? Auch im Bereich des Politischen sind im Namen der Verteidigung Kriege entfesselt worden (man denke nur beispielsweise an den Irak-Krieg oder aber an Putins Narrativ der Verteidigung Russlands). Und ganz allgemein gilt: Aus dem Recht auf Selbstverteidigung folgen schwierige Fragen, etwa nach den angemessenen Mitteln.

Aber alledem zum Trotz: Auch wenn die Grenzen der Selbstverteidigung nicht immer genau und ein-eindeutig sein mögen – die Selbstverteidigung ist und bleibt ein fundamentales Recht. Ein Recht, das wir nicht aufgeben dürfen. Vielleicht ist es ein wenig so wie mit der Freiheit: Auch wenn wir allenthalben ihre Grenzen sehen, müssen wir an ihr festhalten. Unsere Gesellschaft würde sonst implodieren.

Kampfkunst und Frieden

Bleibt abschließend noch die dritte Facette: die Kampfkunst als Kunst. Diese Facette hat mich wohl am meisten umgetrieben, seitdem ich Kampfkünste ausübe und besonders, seitdem ich Aikido übe. Denn ich verstehe Aikido vorrangig als eine Kampfkunst.

Kampfkünste im Sinne einer Kunst zeichnen sich gerade, so meine ich, durch ihr scheinbares Gegenteil aus: Ihnen geht es im Kern nicht um Gewalt, sondern um Respekt; nicht um Krieg, sondern um Frieden.

Das lässt sich auch historisch nachzeichnen: Kampfkünste entstanden erst, nachdem die jeweiligen Kampfsysteme ihre Funktion als Kriegskunst verloren hatten (etwa durch die Industrialisierung des Krieges durch moderne Schusswaffen, Flugzeuge etc. pp.). Das gilt für Aikido ganz besonders: Der Begriff und die heute bekannteren Formen werden von dem Gründer Ueshiba Morihei erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt und mit einer Vision einer friedlichen Welt verbunden.

Negativer Frieden / positiver Frieden

Die Kampfkunst entsteht also erst in der Abwesenheit ihrer militärischen Nützlichkeit. Ihre neue Funktion erhält sie aber, so möchte ich behaupten, aus der Einsicht, dass die Vorstellungen eines negativen Friedens verkürzt ist. Nach dieser Vorstellung ist Frieden die Abwesenheit von Krieg (vgl. Brzoska 2011). Diese Definition erfasst aber nur eine notwendige Bedingung für Frieden, ist aber nicht hinreichend (zu den beiden Bedingungsformen vgl. meinen Artikel dazu). Positiver Frieden braucht auch die Möglichkeit, sich in der Welt zeigen und einbringen zu können. Und er braucht den geschulten Umgang mit Gewalt und Konflikt. Gerade das übt die Kampfkunst, wie ich sie verstehe. Der Code der Kampfkünste ist: negativer Frieden/positiver Frieden.

Was heißt das aber nun für die Kampfkunst in Zeiten des Krieges?

Die Kampfkunst mag ihren Beitrag leisten, bevor es zu einem Krieg kommt. Sie hat eine präventive Funktion, indem sich in einer friedlichen Konfliktbewältigung übt. Sie mag auch nach einem Krieg zur Versöhnung beitragen, indem sie einen tatsächlichen Konflikt ritualisiert und in den geschützten Raum des Dojos verlagert. Aber die Kampfkunst ist hilflos in unserem Jetzt, in dem gerade ein Krieg tobt.


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