Warum wir Aikido neu denken müssen

Ich bei einer Fallübung.

Aikido befindet sich in einer Sinnkrise: Es ist zu einer angreifbaren Kampfkunst geworden, deren Mythos langsam aber sicher verblasst. Das ist eine Gefahr für Aikido – und eine Chance.

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Aikido-Stunde: ans Begrüßungsritual, ans gegenseitige Verbeugen, an die Ernsthaftigkeit beim Üben, an die Überforderung beim Versuch, die Techniken irgendwie zu kopieren – und an den schmerzenden Körper am nächsten Tag. Zwar hatte ich zuvor schon andere Kampfkünste trainiert und war recht fit. Das andauernde Rollen war mir bisher aber nicht untergekommen – und das merkte ich nur zu deutlich, als ich am nächsten Morgen aufwachte.

Aikido hatte mich direkt in seinen Bann geschlagen. Ich genoss das Training, die Bewegungen, das partnerschaftliche Üben. Und ich mochte die Diskussionen und Gespräche nach dem Training, die sich bald entsponnen. Woher kommt Aikido? Welche Stilrichtungen gibt es? Wie effektiv ist Aikido eigentlich? Was ist die philosophische Basis? Wie lässt sich das Üben „auf der Matte“ auf die „Welt da draußen“ übertragen?

Was ist Aikido?

So viel Freude mir das Training und die Diskussionen auch machten: Sie konnten nicht verhindern, dass ein Gefühl des Zweifels auftrat. Der Zweifel bezog sich vor allem auf das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit, also auf das, was „auf der Matte“ gemacht und gesagt wurde und wie sehr dies tatsächlich auf die „Welt da draußen“ zu übertragen war. Waren die Techniken wirklich effektiv? Waren die Aikido-Meister:innen mit hohen Graduierungen tatsächlich so unbezwingbar? Was waren Mythen, die erzählt wurden, und was war echt? Was war Show?

Letztlich stieß ich immer wieder auf die eine entscheidende Frage: Was eigentlich ist Aikido? Eine effiziente Kampfkunst, eine besondere Form des Tanzes, eine japanische Körperschule, eine spirituelle Übung? Ein gewöhnliches Hobby, ein Sport – oder doch ein Lebensweg?

Mit der Zeit habe ich mich damit abgefunden, dass es keine endgültigen Antworten auf all diese Fragen gibt. Wohl wahr – und wie falsch.

Mit der Zeit habe ich mich damit abgefunden, dass es wohl keine endgültigen Antworten auf all diese Fragen gibt. Wohl wahr – und wie falsch. Es können und müssen überzeugendere Antworten gefunden werden – ob sie sich auf Dauer bewahrheiten, wird die Zeit zeigen (und meistens bedarf jede Zeit neue Antworten). Denn ganz ohne eine sinnstiftende oder orientierungsgebende Erzählung schwindet auf Dauer die Motivation – und die braucht es bei einem so langwierigen Weg wie Aikido.

Vor allem aber sind die wenig überzeugende Antworten für die Kunst selbst gefährlich: Die Aikido-Dojos leeren sich (dafür habe ich keine Zahlen, aber es ist ein Eindruck, den mir auch andere spiegeln); in den sozialen Medien steht Aikido immer stärker unter Druck. Wenn uns etwas an dieser außergewöhnlichen Kunst liegt – und mir liegt viel an ihr –, dann müssen wir die Herausforderungen, vor denen Aikido gegenwärtig steht, aktiv angehen und nach Antworten suchen. Die Antworten liegen aber nicht einfach herum oder können aus alten Büchern abgeschrieben werden. Neue Zeiten, so bin ich überzeugt, brauchen neue Antworten. Aikido muss neu gedacht werden.

Aikido hat ein Legitimationsproblem

Worin aber besteht genau die Herausforderung, vor der Aikido steht? Meine These ist: Aikido schlittert zunehmend in eine Sinnkrise hinein. Es wird zunehmend schwieriger, auf ganz schlichte und naive Fragen überzeugend zu antworten: Wofür genau trainieren wir eigentlich „auf der Matte“? Warum üben wir die Techniken unendliche Male? Wofür rollen wir Tausende Male hin und her? Kurzum: Wozu sollten wir Aikido üben?

Viele Antworten darauf sind meiner Ansicht bisher oberflächlich, weil es für die Sinnkrise des Aikido systematische Gründe gibt. Besonders zwei Gründe erscheinen mir dabei entscheidend: der Siegeszug des MMA und der schwindende Mythos des Aikido.

Grund 1: Der Siegeszug des MMA

Fangen wir mit dem ersten Grund an: der Siegeszug von neuen Kampfkünsten und -sportarten wie der des MMA (Mixed-Martial-Arts) seit Beginn der 1990er-Jahre. Im Kontrast zu dieser offenen und hinsichtlich der in ihr integrierten Disziplinen umfassenden Kampfkunst wurde eines überdeutlich: die Begrenztheit des Aikido. So fehlen im Aikido-Training u.a. systematisch Tritte, das Üben wirksamer Angriffe oder der Bodenkampf.

Damit hängt auch zusammen, dass ein häufig in der Aikido-Welt vorgebrachtes Argument nicht mehr überzeugend ist. Aikido – so dieses Argument – sei gerade durch den Verzicht auf den sportlichen Wettkampf kein auf sportliche Regeln eingeschränktes System und daher realistischer. Angesichts des Umfangs der im MMA erlaubten Techniken und angesichts der Brutalität des Wettkampfes (immerhin ist das Verletzungsrisiko hoch und auch Todesfälle sind bereits mehrfach aufgetreten) lässt sich nur noch sehr schwer behaupten, dass die Aikido-Kampfkunst näher an „der Realität“ sei als der MMA-Kampfsport.

Aikido ist zu einem in sich geschlossenen System geworden, das sich nicht mehr gegen andere Systeme, Taktiken oder Bewegungsmuster bewähren muss.

Diese Diskrepanz wird umso deutlicher, wenn man sich die aktuellen Entwicklungslinien im Aikido anschaut: Entweder dominiert der Fokus auf Grundtechniken oder aber es werden vorwiegend fließende, fast tanzähnliche Bewegungen praktiziert. Beiden Übungsformen ist eines gemein: die sehr voraussetzungsvolle Rolle der Übungspartner:innen. Die:er Partner:in hat nämlich entsprechend eine sehr statische oder aber eine sehr monoton-aktive Rolle. Beides macht aus didaktischen Gründen innerhalb des jeweiligen Systems durchaus Sinn. Bleibt es aber bei dieser grundsätzlichen Aufteilung zwischen Uke (die Person, die angreift und die Technik aufnimmt) und Nage (die Person, die die Technik ausführt) – dann entsteht ein in sich geschlossene System, das sich nicht mehr gegen andere Systeme, Taktiken oder Bewegungsmuster bewähren muss.

Um sich als effektive Kampfkunst heutzutage behaupten zu wollen, müsste sich Aikido dem Wettbewerb mit dem MMA stellen. Und dieser würde wohl sehr schmerzhaft ausgehen – dazu braucht es wenig Fantasie (interessante Einblicke dazu gibt es auf dem Youtube-Kanal Martial Arts Journey, etwa in diesem Video). Kurzum: Die häufig im Aikido-Dojo vorgebrachten Erklärungen, wie Aikido in der „Welt da draußen“ funktioniere, verliert immer weiter an Überzeugungskraft.

Grund 2: Schwindender Mythos

Wie in vielen traditionellen Kampfkünsten steht auch beim Aikido eine charismatische Figur am Anfang: Der Gründer Morihei Ueshiba, meist nur als O-Sensei bezeichnet. Was richtiges Aikido sei oder nicht sei, wurde nicht zuletzt an ihm gemessen. Und auch sein Können und sein Mythos machten lange den Reiz des Aikido aus. Er galt als Garant dafür, dass Aikido tatsächlich eine außergewöhnliche Kampfkunst sei. Eine Kampfkunst, die Effektivität und Friedfertigkeit miteinander verbinde. Doch O-Sensei ist bereits lange verstorben – und auch von den Aikido-Lehrern der ersten Generation leben immer weniger. Damit löst sich diese Autorität zunehmend auf. Überspitzt gesagt: Aikido überzeugte lange Zeit nicht an sich, sondern qua der Existenz seines Begründers.

Überspitzt gesagt: Aikido überzeugte lange Zeit nicht an sich, sondern qua der Existenz seines Begründers.

Neben diesem schwindenden Mythos kommt eine zweite Entwicklung hinzu. Von den 60ern bis in die 90ern haftete den asiatischen Kampfkünsten ein Nimbus des Überlegenen an: Die Kampfsysteme erschienen den hiesigen überlegen. Mehr noch: Sie wurden fast schon mit übernatürlichen Fähigkeiten verbunden. Man denke hier nur an die Shaolin-Mönche. Eine ganz entscheidende Rolle spielten dabei sicherlich die Filme von Bruce Lee, Jackie Chan, Steven Seagal usw., mit denen eine ganze Generation an Kampfkünstler:innen aufgewachsen ist.

Porträt des Begründer des Aikido Ueshiba Morihei.
Der Gründer des Aikido Ueshiba Morihei, in der Aikido-Welt häufig als O-Sensei bezeichnet.
© Gahaca, Gahacama Xiyetshi, CC BY-SA 4.0

Und hier schließt sich also auch der Kreis zum oben angeführten ersten Grund der Legitimationskrise des Aikido: Der Nimbus der asiatischen Kampfkünste musste schwinden, sobald neue Kampfsysteme entstanden, die sich im Wettbewerb der Kampfkünste bewährten – und dabei ohne einen Gründer-Mythos auskommen zu scheinen.

Aikido im luftleeren Raum

Diese beiden Entwicklungen lassen sich folglich so zusammenfassen: Aikido befindet sich in einem schwebenden Zustand zwischen einer effektiven Kampfkunst und einer ritualisierten oder ästhetischen Bewegungskunst – einem Zustand, der zudem nicht mehr durch die beinahe mystifizierende Strahlkraft asiatischer Kampfkünste und des Begründers Ueshiba Morihei überdeckt werden kann.

Das ist erst mal eine ernüchternde Beobachtung. Und sollte sie stimmen, dann steht Aikido vor einer düsteren Zukunft. Denn eine Lösung fällt nicht leicht:

  • Versuchen wir, Aikido weiterhin als effektive Kampfkunst und Selbstverteidigung zu denken, dann machen wir uns letztlich unglaubwürdig. Wir müssten dann eine unüberbrückbare Distanz etwa zum MMA „wegdiskutieren“. Versuchen wir hingegen, Aikido „wettbewerbsfähig“ zu machen (sprich: in den Ring mit MMA zu gehen), dann würde vom Aikido wohl wenig übrig bleiben.
  • Verzichten wir auf den Kampfkunst-Aspekt des Aikido, dann verlöre Aikido seine Basis und seine Tradition. Oder anders gesagt: Die Leitplanke, die bestimmte Techniken erklärbar macht, ginge verloren. Damit würde Aikido aber letztlich beliebig und zu einer reinen Tanzform werden. Und da es schon verwandte Tanzstile gibt (etwa Contact Improvisation, das Elemente des Aikido aufgegriffen hat), dürfte auch dieser Ansatz Aikido nicht retten.
  • Versuchen wir – eine dritte Option –, Aikido erneut stärker an den Gründer Ueshiba Morihei zurückzubinden, dann würde Aikido zunehmend dogmatisch. Zum einen, da das Aikido des Gründers sich selbst in einer permanenten Entwicklung befand und deshalb der Streit um das „wahre Aikido“ noch verschärft würde. Zum anderen könnten wir damit schlecht den zweiten Grund für die Sinnkrise – der nachlassenden Überzeugungskraft von mystifizierten Meistern oder Kampfkünsten – aushebeln. Diese Zeiten der charismatischen Kampfkunst-Genies sind vorbei. Verzichten wir allerdings gänzlich darauf, im Aikido etwas Außergewöhnliches zu sehen, dann verlieren wir viel vom Reiz des Aikido: das paradoxe Ideal einer friedvollen Kampfkunst.

Die Sinnkrise ist auch eine Chance

In dieser doppelten Herausforderung lässt sich aber auch eine Chance sehen. Ich zumindest möchte dies in und mit diesem Blog versuchen.

Im Siegeszug des MMA liegt doch auch die Chance, endlich Aikido aus dem überhöhten Anspruch zu befreien, alles gleichzeitig sein zu müssen: eine effektive und friedliche Kampfkunst, eine martialische und spirituelle Kunst, eine ästhetische und realistische. Dieser überhöhte Anspruch muss zwangsläufig scheitern – und das entstandene Vakuum lässt Raum für neue Ideen.

Im Verschwinden des Mythos liegt eine Chance, sich von der Überhöhung der Meister:innen zu verabschieden – und uns selbst die Frage zu stellen, die schon die Ausgangsfrage bei Etablierung moderner Budo-Künste war. Wie können wir einer Kampfkunst eine neue Funktion geben, wenn die Geschichte sie ihrer alten Funktion beraubt hat?

Ich will mit diesem Blog einen Beitrag dazu leisten. Ich will Aikido neu denken, erneut durchdenken. Ich will Antworten für Theorie und Praxis auf die Herausforderungen finden, vor denen Aikido gegenwärtig steht.

Ich meine, dass Aikido viel zu bieten hat. Immer noch. Und auch in Zukunft.


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6 Kommentare

  1. Hallo Jacob,

    es gibt so viele Aspekte, die am Aikido in der heutigen Zeit beleuchtet werden könnten. Aber vor allem zwei fallen mir direkt zu dem ein, was du geschrieben hast:
    Ist die Strahlkraft der alten Meister überhaupt etwas, das Leute zum Aikido gebracht hat? Der Mythos um O-Sensei und die Aikidoka, die direkt unter ihm trainiert haben, existiert selbst schon nur sehr tief in einer geschlossene Aikido-Blase und hat für die Außenwahrnung nicht viel Bedeutung, die Aikido von anderen Kampfkünsten unterscheiden würde.
    Da scheint mir der Aspekt, dass es eine fernöstliche Kampfkunst ist, noch mythischer. Dass es neben dem physischen Training auch ritualisierte Nebenhandlungen gibt, machen (u.A.) aus dem Aikido auch etwas exotische Kulturpflege, die sicherlich Interesse wecken kann.

    Davon abgesehen kann ich aus meinem jetzigen Dojo bestätigen, dass es für einige Aikidoka vordergründig ist, in einer wettbewerbsfreien Disziplin zu trainieren und für die daher alle Vergleiche oder gar Ansprüche Richtung MMA reichlich abwegig wären.
    Das soll natürlich nicht heißen, dass Aikido selbst sich darauf beschränken muss, ein austauschbarer Breitensport zu sein. Im Interesse einer allgemeine Verbreitung von Aikido sollte das aber weiterhin so genutzt werden können.

    1. Hallo Konrad! Schön von dir zu hören! Ja, tausende Aspekte gibt es – und irgendwo muss man ja anfangen 🙂 Interessant, dass du das mit der Strahlkraft anders siehst. Ich meinte das nicht so sehr nur auf O Sensei, sondern die ganze „Strahlkraft“ des Budo/Kung Fu der 60er, 70er ff. Solche Gründerfiguren sind ja nicht bei allen Kampfkünsten und vor allem -Sportarten noch so präsent (wegen dem von dir angesprochenen Unterschied).

      Die Wettbewerbsfreiheit halte ich auch für ein Fund des Aikido! Was sind denn noch so Gründe, Aikido zu üben, deiner Erfahrung nach?

      Hoffe, wir sehen uns bald mal wieder irgendwo auf der Matte!

      1. Das erinnert mich an eine Frage, die ich mal mit Robert beim Training diskutiert haben. „Wozu mache ich Aikido?“
        Das schreit natürlich nach einer übersimplifizierenden Antwort, aber wir fanden „um locker zu bleiben“ als Konsens ganz gut.
        Tatsächlich habe ich auch nach intensivem Training eigentlich immer das Gefühl, sehr entspannt und gelockert von der Matte zu gehen, was nicht unbedingt bei allen anderen Sportarten der Fall ist, selbst wenn man sich mit dem Anspruch, besser werden zu wollen, richtig ins Zeug legt.
        Es würde mich freuen, wenn du es im Juni zum Lehrgang mit P. Guillemin nach Hamburg schaffst.

        1. Das ist ein spannender Punkt. Den behalte ich mal für meinen nächsten Beitrag im Hinterkopf! 🙂 Danke für den Hinweis mit dem Lehrgang, ich glaube nur, dass ich da schon verplant bin. Muss mal schauen. Ansonsten schaue ich gerne mal im Dojo bei dir/euch vorbei, wenn ich das nächste mal in der Nähe bin?!

  2. Lieber Jacob,
    vielen Dank für die tolle Initiative zu Aikido Gedanken Austausch. Wir haben viel miteinander trainiert und diskutiert. Ich erinnere mich gut an dein erstes Training, und dass Du danach gesagt hast: Das gefällt mir! Ich bleibe dabei!
    Ich habe das schon oft gehört, aber Du hast dein Wort gehalten!

    Deine These ist, dass Aikido sich in einer Sinnkrise befindet. Laut Duden: „eine psychische Krise, in die jemand geraten ist, weil er das Leben nicht mehr als sinnvoll erfährt“. Nun soweit würde ich nicht gehen. Aikido ist eine Kampfkunst (i.w. KK) wie jede andere, egal ob östlich oder westlich. Sie hat Stärken und Schwächen, Vorteile und Nachteile, übt eine große Faszination aus und ja, hat jede Menge Mythen. Eine Krise ist auf jeden Fall da, das sehe ich daran, dass der Alter der Teilnehmer in mir gekannten Dojos steigt und es kaum Nachwuchs gibt. In einer Krise befinden sich m.M.n. alle Sportarten, die ein regelmäßiges, langjähriges Training erfordern, bis man überhaupt „laufen“ gelernt hat, wonach die eigentliche Auseinandersetzung mit der Kunst beginnt.

    Du führst als den 1. Grund „Siegeszug des MMA“ an. Ich finde die Reduzierung einer KK auf Anwendbarkeit in einem Ring / Oktagon wenig sinnvoll. Wenn es danach ginge, müsste man alle klassischen Kampfkünste abschaffen. Nur BJJ, Combat Sambo und Tai/Kickboxen blieben übrig. Alles andere ist „nicht effektiv“. Auch wenn professionelle MMA Kämpfe sehr brutal aussehen, gibt es klare Regeln, wodurch wichtige Aikido Techniken nicht angewandt werden dürften. UFC Regelwerk ist darauf getrimmt, dass ein Kampf möglichst brutal aussieht. UFC wurde von den Entwicklern des BJJ der Gracie Familie, sehr clever promotet. BJJ ist für seine Stärke in Bodenkampf bekannt. In der Anfangszeit war Auswahl der Gegner sehr geschickt: es wurden kaum Ringer eingeladen, sondern Vertreter der schlagenden Disziplinen, die sich am Boden nicht auskannten. Wenn man das nämlich getan hätte, würde das womöglich so aussehen, wie im Kampf der Ringer Legende Alexander Karelin gegen Akira Maeda. Ganz großes Popcorn-Kino 🙂 Nach einer Minute verwandelt sich der furchterregende MMA Kämpfer in ein Trainingsdummy.

    https://www.youtube.com/watch?v=-LeuOJgvda8&t=638s

    Also folgern wir daraus: griechisch-römisches Ringen, das ist die ultimative Kampkunst! 😉 Oder sollten wir doch bei der eigenen KK bleiben, sie in aller Tiefe studieren, pflegen, lieben und promoten, so wie das der Großmeister Karelin mit Ringen tut?

    Es ist interessant Meinung anderer kompetenter Trainer über MMA zu hören, wie z.B. diese hier von verdienten russischen Boxtrainer Mark Melzer zum Kampf McGregor vs. Poirier:
    https://youtu.be/t7E2GDOoduY
    Einige Aussagen. „Er hat schon 10-mal direkt am Kopf getroffen! Warum ist der Gegner noch nicht KO?“. „Die Jungs können unglaublich viel einstecken“. „Na endlich, ein KO. Na ja… Aus Sicht eines Boxers ist das widerlich auf einen wehrlos am Boden liegenden Menschen einzuschlagen, insbesondere auf Hinterkopf…“

    Es mag sein, dass diese modernen Gladiatorenkämpfe die breite Masse anregen, von der ein verschwindender Anteil je auf der Matte oder im Ring stand. Mein Fetisch ist das jedenfalls nicht. Genauso wenig wie das Verhalten mancher MMA Vertreter außerhalb des Rings.

    Ich habe Budo mit Shotokan Karatedo angefangen. Die erste Dojo Kun (Regel) des Gishin Funakoshi Seneis lautet: „Karate beginnt mir Respekt und endet mit Respekt“. Jigoro Kano Sensei sagte: „Judo ist das Werkzeug eigenen Charakter zu vervollkommnen.“ O-Senseis Morihei Ueshiba lehrte: „Aikido ist keine Technik, um einen Gegner zu bekämpfen oder zu besiegen. Es ist ein Weg, die Welt zu versöhnen und die Menschheit zu einer Familie zu machen.“ Kurzum, die Ethik des Budos steht in grasen Widerspruch zu dem, was wir bei MMA sehen.

    Was macht Aikido einzigartig? Ist es eine geheimnisvolle Technik? Sicher nicht. Alle Menschen bestehen aus Knochen, Muskeln und Nerven. Und natürlich kennt jeder Ringer oder Judoka alle Aikido Hebel und Würfe nur nennt und macht sie u.U. anders. Das wirklich Besondere an Aikido ist die defensive, friedliche Grundhaltung. O-Sensei: „Das einzige was es zu bekämpfen gibt, ist der nach Kampf strebende Geist in uns.“ Oder: „Ich unterrichte euch nicht eine KK-Technik, ich unterrichte euch Gewaltlosigkeit.“ Wobei hier nicht die Gewaltlosigkeit nach der Bergpredigt oder nach Gandhi gemeint ist. Hier ist es erstens, dass Du erstens selbst nicht gewalttätig werden darfst und zweitens, wenn jemand gegen dich Gewalt ausübt, dann sollst Du denjenigen am Leben und am besten unverletzt lassen. Das ist der Grundsetup. Wenn für eine Person Wettkampf in Vordergrund steht, ist sie bei Aikido an einer falschen Adresse. Aikido spricht genau die Menschen an, die aus welchen Gründen auch immer nicht an Meisterschaften beteiligen wollen. Durch Aikido kann man Personen zu KK heranführen, die sich zu andere KK wahrscheinlich nicht getraut hätten. Ich hatte SchülerInnen, die am Anfang ihres Traininigs so zärtlich waren, dass ich mich nicht getraut habe, sie fest anzufassen. Durch das Training (nicht zu vergessen das mit Stock und Schwert!) haben sie sich körperlich und mental entwickelt. Denn oft geht körperliche Schwäche mit geringen Selbstvertrauen einher. Allein das ist für mich Legitimation genug!

    Nach dieser Ausführung könnte man denken: naja mit diesem esoterisch ideologischen Ballast kann Aikido grundsätzlich nicht funktionieren! Wie kann es dann sein, dass z.B. Tokioter Polizei Yoshinkan Aikido in ihrer Ausbildung hat? Ich habe einige Polizisten oder Türsteher kennengelernt, die überhaupt kein Problem mit Anwendbarkeit sehen. Oder warum hat Jigoro Kano Sensei einige seiner besten Schüler zu O-Sensei geschickt?
    Ich denke es gibt kein grundsätzliches Problem mit Aikido. Das Problem liegt wie Du schreibst oft in der Art des Trainings. Ich möchte dazu dieses Interview mit Joe Tambu Sensei erwähnen.
    https://www.youtube.com/watch?v=ouzg7sPEXnw
    Wir haben Tambu Sensei beide gesehen und wissen das, was der kleine Mann mit seinen <60kg macht, ist kein Fake ist. Das ist fast Magie.

    Ich möchte auf übliche Defizite im Training eingehen. Während die alten Stille Iwama Ryu Takemusu Aiki und Yoshinkan durchaus feste und herausfordernde Angriffe haben und erstmal statisch in Grundschule üben, trainieren die späteren Stille ausschließlich aus der Bewegung und können i.d.R. schlecht mit festen Angriffen umgehen. Dann kommt hinzu, dass die Angriffe an sich nicht systematisch unterrichtet werden. Manche Angriffe werden nicht verstanden und folglich schlecht ausgeführt. Für mich war es ein Aha-Erlebnis bei einem Seminar mit Stepan Benca Sensei die Erklärungen zu Ushiro Angriffen aus Sicht eines Jiu-Jitsu und Kodokan Judo Experten zu hören. Die schlagenden Angriffe sind aus Sicht eines Karatekas oft eine Katastrophe… Hier empfehle ich den Austausch mit Karateka, Judokas oder Ringer zu suchen

    Oft wird nach „Effektivität“ einer Kampkunst gefragt. Aber was bedeutet Effektivität? Ich bemühe wieder Duden: wirksam, wirkungsvoll, lohnend, nutzbringend. Die Frage ist nun: in welchem Kontext nutzbringend?
    Betrachten wir den Aspekt der Selbstverteidigung (i.w. SV): Ich unterteile ihn vereinfachend in drei Ebenen:
    1. SV für durchschnittliche Bürger. Hier ist es am wichtigsten aus einer gefährlicher Situation ohne Schaden herauszukommen. Am besten so, dass auch die Angreifer keine Verletzungen oder gar bleibenden Schäden tragen. Rechtlich gesehen ist Aikido die perfekte KK dafür.
    2. SV für einen Polizeibeamten. Wie bei 1. aber evtl. muss man eine Person demobilisieren und abführen.
    3. SV für Mitglied eines Sondereinsatz Kommandos. Hier geht es darum evtl. einen Terroristen möglichst schnell auszuschalten. Gesundheit oder körperliche Unversehrtheit spielen keine Rolle.

    Diese Situationen haben mit einem sportlichen Wettkampf äußerst wenig gemeinsam. In einer SV-Situation geht es unter Umständen um Leben und Tod. In diesem Kontext ist ALLES erlaubt. Wenn der Angreifer mit dem Kopf gegen Bordstein knallt, dann ist es halt so. Lieber vor einem Richter stehen als vor Petrus…

    Als zweiten Grund führst Du das schwindende Mythos an. Ich bin nicht sicher, ob es tatsächlich am Fehlen des O-Senseis oder der Aikido-Meister der ersten Generation liegt. Ich behaupte, dass die breite Masse durch Steven Seagals Action Filme auf Aikido aufmerksam wurde. Zurzeit gibt keine Action Stars wie Bruce Lee oder Chuck Norris. Und der Hype der 70-80 Jahre um östliche KK ist vorbei. Stattdessen gibt es in den Sozialen Medien starke Tendenz traditionelle KK schlecht zu reden.

    Du erwähnst das YouTube Kanal „Martial Arts Journey“ von Rokas Levanavicius. Ich wunderte mich, warum ich immer wieder darauf angesprochen werde. Ich habe sein Video Aikido vs. MMA angeschaut, und wieder vergessen. Ohne Kommentare würde ich nie darauf kommen, dass Rokas Aikido repräsentiert. Leider ist sein Kanal mit mehreren Millionen Aufrufen pro Video sehr erfolgreich geworden durch die Message: Ich habe x-Jahre Aikido trainiert und ich kann niemanden „besiegen“. Wobei mir nicht klar ist, was das Ergebnis des Sieges sein soll? Aber nicht Ich bin schuld, nein, nein: Aikido ist schlecht (nicht effektiv)! Das ist sehr ärgerlich.

    Meiner Meinung nach liegt das Hauptproblem in schlechter Werbung oder gar Antiwerbung für Aikido. Aikido nur auf SV und Effektivität zu reduzieren, ist zu simple und wird den anderen großartigen Aspekten nicht gerecht. Wir müssen dringend etwas dagegen. Es wird schwierig. Die einfachen Botschaften verbreiten sich viel leichter.

    1. Lieber Alex, vielen lieben Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Das hat eine Länge, dass ich mir das glatt als einen eigenständigen Beitrag in „meinen Think Tank“ vorstellen kann. Hättest du Lust?

      Und danke für die interessanten Links, vor allem das Interview mit Tambu Sensei. Ich denke auch, dass ein ganz entscheidender Punkt das Training selbst ist – und das das genau mit dem zusammenpasst, was für einen Aïkido wertvoll macht und für was man es anpreist. Und das hängt ja auch damit zusammen, dass man klar darin ist, was Aïkido bzw. die Trainingsform nicht so gut schult (zB führt zu langes Training von statischen festen Angriffen ja vielleicht dazu, das man genau mit diesen zurecht kommt, aber eben mit einem anderen Ukemi wiederum nicht). Über vieles davon will ich in kommenden Beiträgen schreiben, um zu versuchen da für mich Klarheit reinzubringen und damit Aïkido also selbstbewusst „bewerben“ zu können. Denn die Aufgabe haben wir ja anscheinend, wenn andere so gut sind in der PR.

      vielleicht noch ein Ding hier auf die Schnelle: Ich denke auch, Jackie Chan usw waren super entscheidend. Aber sie standen ja nicht nur für sich, sondern in einer Zeit, in der es eine Faszination für den fernen Osten gab und das, so glaube ich eben, gerade dadurch, dass den Meister*innen (auch im Zen usw.) etwas zugeschrieben wurde, das hier vermisst wurde (zB eine authentische Spiritualität). Klar, ich habe nicht an das geglaubt, was in den Wuxia-Filmen gezeigt wurde – aber für mich waren die Fähigkeiten von Shaolin-Mönchen schon fast an der Grenze des „normalen“/„natürlichen“ oder was auch immer. Will sagen: Es hat sie eine gewisse Aura umgeben.

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